Monat: Mai 2021

  • Lebensphasen: Zwischen Expansion und Kompression

    Lebensphasen: Zwischen Expansion und Kompression

    Alltagspsychologie kann schnell zum dünnen Eis werden: Wer versucht, ein paar Gedanken in diesem Feld zu ordnen, muss aufpassen, dass er nicht durchbricht und in den Untiefen der „Küchenpsychologie“ versinkt. Daher sind die nachfolgenden Überlegungen, nur eine erste Skizze, deren Strichstärke erst durch weitere Überprüfungen, Identifikation von Indikatoren oder Studien dick genug werden könnte, um irgendwann ein Bild zu formen.

    Lebensphasen-Modelle gibt es einige. Günter Karner hat verschiedenen Ansätze nach steigender Anzahl von Lebensphasen von zwei bis zehn aufgelistet. Den meisten dürfte – so auch Georg Rudinger in der „Bonner Enzyklopädie der Globalität“ – eine chronologische, nicht umkehrbare Abfolge zugrunde liegen: „Die Abfolge dieser Schritte soll unumkehrbar sein, was bedeutet, dass keine Stufe übersprungen werden kann. Jede frühere Stufe stellt die Voraussetzung für die nachfolgende dar und soll an ein bestimmtes Lebensalter gebunden sein.“ Häufig gehen diese sequentiellen Abschnitte mit einer Krise und deren Bewältigung einher – so wie im achtphasigen „Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung“ nach Erik H. Erikson: „Jede der acht Stufen stellt eine Krise dar, mit der das Individuum sich aktiv auseinandersetzt. Die Stufenfolge ist für Erikson unumkehrbar. […] Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen, und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. […] Für die Entwicklung ist es notwendig, dass [der Konflikt] auf einer bestimmten Stufe ausreichend bearbeitet wird, damit man die nächste Stufe erfolgreich bewältigen kann.“

    Neben der zeitlichen Abfolge gehen die meisten Modelle auch von einem bogenförmigen Verlauf von Wachstum und Regression (häufig mit der „midlife crisis“ als Wendepunkte in der Mitte) aus, weil „es überall im Lebendigen einen Aufstieg, eine Blüte und einen Abstieg gibt“. (vgl. Karner) In den meisten Modellen sind Expansion und Kompression bereits angelegt – häufig aber auf den Gesamtverlauf des Zyklus bezogen und / oder an konkrete einzelne Phasen geknüpft. Wichtig bei den Betrachtungen erscheint auch, die Entwicklung der Lebensphasen nicht nur an das einzelne Individuum, sondern an den sozialen Kontext zu koppeln, denn es handelt sich um kein Programm, das automatisch – unabhängig von Zeit und Raum – in der isolierten Einzelperson abläuft: „Im Gegenteil, jeder muss mit sich selbst und den anderen seinen eigenen Lebensstil ‚aushandeln‘, den eigenen Lebensplan definieren und ständig neu verändern, ebenso auch das Bild von der eigenen Person flexibel weiterentwickeln.“ ( Hurrelmann, 2003, S. 117)

    Ein paar Grundgedanken scheinen zentral:

    • – zeitliche Abfolge von Phasen
    • – Wachstums- und Regressionsdynamiken
    • – Wendepunkte beim Phasenwechsel
    • – Abhängigkeit des ‚Programmablaufs‘ von äußeren Faktoren

    Mir schwebt eine reduzierte Perspektive auf Lebensphasen vor, die zunächst nur auf die Ausrichtung und Wirkweise ihrer Energie achtet: Sind sie auf Wachstum und Ausdehnung – also Expansion – oder auf Verdichtung und Fokussierung – also Kompression – ausgerichtet?

    Diese Dualität ist verlockend: Schnell mag man ähnliche, antagonistische Modi assoziieren wie „extrovertiert vs. introvertiert“, „anschaffen vs. verschenken“ oder „quantitativ vs. qualitativ“. Aber es wäre zu einfach, die unterschiedlichen Wirkrichtung der Energie auf diese Paare zu reduzieren – auch wenn sicher einige der damit verbundenen Aspekte auch bei „Expansion vs. Kompression“ anteilig eine Rolle spielen mögen. Wichtig ist: Es geht nicht um einen bewertenden Qualitätsunterschied der beiden Phasen-Modi. Sie bilden keine Gegenpole, die mit einem Plus und einem Minus versehen werden könnten. Beide Phasen haben ihre Vor- und ihre Nachteile – weder ist die eine positiv noch die andere negativ.

    Ganz im Gegenteil: Beide Phasen können als energetisch sehr positiv und wertvoll empfunden werden. Geht es einmal – in der Expansion – darum, seinen Radius zu erweitern und über sich hinauszuwachsen, die Welt zu entdecken und zu erobern, Schätze zu finden und sie zu sammeln, so geht es auf der anderen Seite – in der Phase der Kompression – um Vertiefung, Verfestigung und Fixierung.

    Natürlich spielen auch bei diesem Ansatz externe Impulse, die zumeist mit dem Lebensalter korreliert sind, eine Rolle: der Eintritt in die Schule, der Beginn des Arbeitslebens, die Phasen der Partnerschnaften sowie der Wechsel in die Rente. Ein beispielhafter Verlauf könnte wie folgt aussehen:

    Beispielhafter Verlauf von Phasen der Expansion und Kompression über den Lebensverlauf

    Mit den ersten Loslösungsversuchen von der Mutter entdeckt das Kind seine ersten Handlungsspielräume, mit der Schule folgt ein Regelsystem, das anfänglich eher verinnerlicht wird, aber mit der Pubertät auch zum Gegenentwurf im Rahmen der Individuation dienen kann. Ausbildung und Studium bedeuten für viele einen temporären Rückzug aus der äußeren Welt, aber mit dem Berufseinstieg und wachsenden Einkommen, dehnt sich der Aktivitätsradius schnell wieder dynamisch aus: Das Leben gewinnt an Fahrt, es wird gereist, geliebt, geheiratet, Familien gegründet. Viele werden durch Trennung und Scheidung schlagartig und radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn man sich wieder aufrappelt, möchte man der Welt zeigen, dass man noch da, aber häufig folgt nach diesem kurzen Selbstbeweis eine Phase der Reflexion und Fokussierung. Mit dem Eintritt ins Rentenalter entdecken viele Menschen noch mal neue Möglichkeiten, bevor die Kraft altersbedingt nachlässt und die Welt um einen herum immer kleiner wird.

    In soweit ähneln sich viele Modelle tatsächlich. Aber wenn man Expansion und Kompression als intrinsisch motivierte Modi sieht, können die Phasen der Ausdehnung und der Fokussierung unabhängig von personenbezogenen Merkmalen (wie beispielsweise das Alter) und sozialen oder externen Impulsen (wie beispielsweise Schule und Scheidung) eintreten. Man kann sich damit von holzschnitzartigen Programmabläufen von Lebensphasen verabschieden. Es spielt für diese Betrachtung auch keine Rolle, auf welcher Stufe sich die Person befindet und ob es überhaupt definierten Stufen und eine festgelegte Abfolge gibt. Es geht nur darum wahrzunehmen, ob Menschen sich gerade eher in einer Phase des Wachstum und der Ausdehnung (Expansion) oder Vertiefung und Verinnerlichung (Kompression) befinden – diese verlaufen nicht immer gleich und selten parallel. Aber diese Unterscheidung der jeweiligen Blickrichtungen – nach außen oder nach innen – kann helfen zu erkennen, wo andere Menschen gerade stehen oder ihre vielleicht temporär diametral unterschiedliche Entwicklungsdynamik aufdecken.

    Die Lebensphasen zweier Menschen können sich temporär diametral zwischen Expansion und Kompression gegenüberstehen.

    Diese Perspektive kann helfen, negative Paardynamiken (ein Partner geht in den Ruhestand, während der andere einen weiteren Karriereschritt macht) oder auch Familienkonstellation (rebellierende Teenager vs. harmoniebedürftiger Eltern) zu verstehen. Die unterschiedlichen Orientierung zwischen Wachstum und Verdichtung erklären auch unterschiedliche Bedürfnisse von Personen in diesen Phasen. Es kann hilfreich sein, diese aufzudecken, zu diskutieren und untereinander auszuhandeln. Nicht die Unterschiede per se machen uns das Leben schwer, sondern diese nicht zu erkennen, um mit ihnen umgehen zu können.

    Mit dem Lebensphasen-Modi der Expansion und Kompression liegt ein pragmatischer Ansatz vor, der Zugang zur Bewertung von dynamischen Spannungen liefern kann, ohne komplexe Ableitung- und Herleitungsmodelle bemühen zu müssen. Eine Art „Lackmus“-Test, der schon mal eine Menge an Antworten liefern kann, ohne eine komplette Analyse fahren zu müssen.

  • Moralisch korrekt und außerhalb des Gesetzes

    Moralisch korrekt und außerhalb des Gesetzes

    Ich lese wieder sehr viel in letzter Zeit – vieles ist unterhaltsam, anderes sehr lehrreich, aber so richtig beeindruckt hat mich ein Buch schon länger nicht mehr, so dass ich hätte darüber schreiben wollen. Aber diese Geschichte zeigte Wirkung: Es ist das von seiner Tochter aufgezeichnete Leben eines Mannes, der stets seinem moralischen Kompass folgte und damit dem Großteil seines Lebens in der Illegalität verbrachte. Es geht um „Adolfo Kaminsky – Ein Fälscherleben“.

    Wie ich auf das Buch kam – weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls war ich neugierig und habe es mir (wie so viele Dinge) gebraucht bestellt – wobei das Porto dabei ja in der Regel der teuerste Bestandteil ist. Vermutlich interessierte mich ein außergewöhnliche Leben, das meistens unter außergewöhnlichen Rahmenbedingungen entsteht. Der Mitte der 1920er Jahre in Buenos Aires geborene Kaminsky stammt aus einer russisch-jüdischer Familie, die 1910 nach Frankreich auswanderte, aber 1917 nach Argentinien weiterzog. 1932 gingen sie nach Frankreich zurück in ein Europa, das schon bald von Nazi-Deutschland verheerend verwüstet werden sollte.

    Mit der Eroberung Frankreichs beginnen auch dort die Juden-Verfolgungen und -Deportationen. In diese dunkele Zeit fällt auch die für mich eindringlichste Szene der Lebenserzählung: In der Lagerhaft in Drancy wird seine Familie vor die Wahl gestellt, Adolfos Schulfreundin Dora in den Tod zu folgen. Ihre Mutter war bereits tot, ihr Vater starb in der gemeinsamen Haft und Adolfos Familie hatte Dora zugesichert, sie wie ihr eigenes Kind anzunehmen und betreuen: „Aber leider zählte diese Adoption nur für uns. Kaum angekommen, wurde sie ins untere Stockwerk zu denen gesteckt, die abtransportiert werden konnten. Mein Vater tat alles, um sie als seine Tochter anerkennen zu lassen, er erreichte sogar eine Unterredung mit dem Lagerführer Alois Brunner. […] Bei seiner Antwort gab mein Vater auf: ‚Wenn Sie sich nicht von ihr trennen können, wie Sie sagen, kann ich der ganzen Familie einen Platz im nächsten Zug verschaffen.’“ (S. 51) Dora wird ein paar Tage später in ein Todeslager deportiert. „Als sie an der Reihe war konnten wir nichts tun, und die Zeit hat das ungeheure Schuldgefühl nicht auslöschen können, das mich bis heute quält.“ (ebd.)

    Am Ende des Buches ist nicht ganz klar, wie vielen Tausenden Menschen Kaminsky mit seinen gefälschten Papieren das Leben gerettet hat – aber dies scheint nicht den als solchen empfundenen Verrat an seiner Schulfreundin aufzuwiegen. Die Perversität, mit der diese Entscheidung erzwungen wurde, verursacht schon beim Lesen Schmerzen. Manch Entscheidung mag uns schwierig entscheiden, aber alles tritt dahinter zurück, jemanden opfern zu müssen, um sich und dem Rest der Familie das Überleben zu sichern.

    Kaminskys Familie wird nicht direkt deportiert, weil sie argentinische Dokumente haben. Der Wendepunkt ist deutlich. Der neugierige Junge ohne richtige Ausbildung geht in den Untergrund und wird einer der größten Fälscher der Neuzeit: Erst in der Resistance (die keine geschlossene Widerstandsbewegung war, sondern ein zerstückelter Haufen vieler Organisationen mit vielen Abkürzungen, die sich oft überhaupt nicht einig waren), dann für die Einwanderung heimatloser Juden nach Palästina und alle Zeit für die Unabhängigkeitskämpfer in Algerien. Dazwischen immer wieder für unterdrückte Gruppen, die staatlichen Repressalien in Europa oder dem Rest der Welt ausgesetzt waren.

    Meistens hat er unentgeltlich gearbeitet und von keinem der Netzwerke vereinnahmt werden zu können und erpressbar zu sein. Sein offizielles Leben als Fotograf, Ehemann und Vater kam dabei zu kurz. Adolfo Kaminsky muss geradezu zwanghaft helfen. Er glaubte stets moralisch das Richtige zu tun und stand dennoch immer außerhalb des Gesetzes. Ein Buch das bedrückt, aber auch irgendwie Hoffnung macht.