Alltagspsychologie kann schnell zum dünnen Eis werden: Wer versucht, ein paar Gedanken in diesem Feld zu ordnen, muss aufpassen, dass er nicht durchbricht und in den Untiefen der „Küchenpsychologie“ versinkt. Daher sind die nachfolgenden Überlegungen, nur eine erste Skizze, deren Strichstärke erst durch weitere Überprüfungen, Identifikation von Indikatoren oder Studien dick genug werden könnte, um irgendwann ein Bild zu formen.

Lebensphasen-Modelle gibt es einige. Günter Karner hat verschiedenen Ansätze nach steigender Anzahl von Lebensphasen von zwei bis zehn aufgelistet. Den meisten dürfte – so auch Georg Rudinger in der „Bonner Enzyklopädie der Globalität“ – eine chronologische, nicht umkehrbare Abfolge zugrunde liegen: „Die Abfolge dieser Schritte soll unumkehrbar sein, was bedeutet, dass keine Stufe übersprungen werden kann. Jede frühere Stufe stellt die Voraussetzung für die nachfolgende dar und soll an ein bestimmtes Lebensalter gebunden sein.“ Häufig gehen diese sequentiellen Abschnitte mit einer Krise und deren Bewältigung einher – so wie im achtphasigen „Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung“ nach Erik H. Erikson: „Jede der acht Stufen stellt eine Krise dar, mit der das Individuum sich aktiv auseinandersetzt. Die Stufenfolge ist für Erikson unumkehrbar. […] Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen, und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. […] Für die Entwicklung ist es notwendig, dass [der Konflikt] auf einer bestimmten Stufe ausreichend bearbeitet wird, damit man die nächste Stufe erfolgreich bewältigen kann.“

Neben der zeitlichen Abfolge gehen die meisten Modelle auch von einem bogenförmigen Verlauf von Wachstum und Regression (häufig mit der „midlife crisis“ als Wendepunkte in der Mitte) aus, weil „es überall im Lebendigen einen Aufstieg, eine Blüte und einen Abstieg gibt“. (vgl. Karner) In den meisten Modellen sind Expansion und Kompression bereits angelegt – häufig aber auf den Gesamtverlauf des Zyklus bezogen und / oder an konkrete einzelne Phasen geknüpft. Wichtig bei den Betrachtungen erscheint auch, die Entwicklung der Lebensphasen nicht nur an das einzelne Individuum, sondern an den sozialen Kontext zu koppeln, denn es handelt sich um kein Programm, das automatisch – unabhängig von Zeit und Raum – in der isolierten Einzelperson abläuft: „Im Gegenteil, jeder muss mit sich selbst und den anderen seinen eigenen Lebensstil ‚aushandeln‘, den eigenen Lebensplan definieren und ständig neu verändern, ebenso auch das Bild von der eigenen Person flexibel weiterentwickeln.“ ( Hurrelmann, 2003, S. 117)

Ein paar Grundgedanken scheinen zentral:

  • – zeitliche Abfolge von Phasen
  • – Wachstums- und Regressionsdynamiken
  • – Wendepunkte beim Phasenwechsel
  • – Abhängigkeit des ‚Programmablaufs‘ von äußeren Faktoren

Mir schwebt eine reduzierte Perspektive auf Lebensphasen vor, die zunächst nur auf die Ausrichtung und Wirkweise ihrer Energie achtet: Sind sie auf Wachstum und Ausdehnung – also Expansion – oder auf Verdichtung und Fokussierung – also Kompression – ausgerichtet?

Diese Dualität ist verlockend: Schnell mag man ähnliche, antagonistische Modi assoziieren wie „extrovertiert vs. introvertiert“, „anschaffen vs. verschenken“ oder „quantitativ vs. qualitativ“. Aber es wäre zu einfach, die unterschiedlichen Wirkrichtung der Energie auf diese Paare zu reduzieren – auch wenn sicher einige der damit verbundenen Aspekte auch bei „Expansion vs. Kompression“ anteilig eine Rolle spielen mögen. Wichtig ist: Es geht nicht um einen bewertenden Qualitätsunterschied der beiden Phasen-Modi. Sie bilden keine Gegenpole, die mit einem Plus und einem Minus versehen werden könnten. Beide Phasen haben ihre Vor- und ihre Nachteile – weder ist die eine positiv noch die andere negativ.

Ganz im Gegenteil: Beide Phasen können als energetisch sehr positiv und wertvoll empfunden werden. Geht es einmal – in der Expansion – darum, seinen Radius zu erweitern und über sich hinauszuwachsen, die Welt zu entdecken und zu erobern, Schätze zu finden und sie zu sammeln, so geht es auf der anderen Seite – in der Phase der Kompression – um Vertiefung, Verfestigung und Fixierung.

Natürlich spielen auch bei diesem Ansatz externe Impulse, die zumeist mit dem Lebensalter korreliert sind, eine Rolle: der Eintritt in die Schule, der Beginn des Arbeitslebens, die Phasen der Partnerschnaften sowie der Wechsel in die Rente. Ein beispielhafter Verlauf könnte wie folgt aussehen:

Beispielhafter Verlauf von Phasen der Expansion und Kompression über den Lebensverlauf

Mit den ersten Loslösungsversuchen von der Mutter entdeckt das Kind seine ersten Handlungsspielräume, mit der Schule folgt ein Regelsystem, das anfänglich eher verinnerlicht wird, aber mit der Pubertät auch zum Gegenentwurf im Rahmen der Individuation dienen kann. Ausbildung und Studium bedeuten für viele einen temporären Rückzug aus der äußeren Welt, aber mit dem Berufseinstieg und wachsenden Einkommen, dehnt sich der Aktivitätsradius schnell wieder dynamisch aus: Das Leben gewinnt an Fahrt, es wird gereist, geliebt, geheiratet, Familien gegründet. Viele werden durch Trennung und Scheidung schlagartig und radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn man sich wieder aufrappelt, möchte man der Welt zeigen, dass man noch da, aber häufig folgt nach diesem kurzen Selbstbeweis eine Phase der Reflexion und Fokussierung. Mit dem Eintritt ins Rentenalter entdecken viele Menschen noch mal neue Möglichkeiten, bevor die Kraft altersbedingt nachlässt und die Welt um einen herum immer kleiner wird.

In soweit ähneln sich viele Modelle tatsächlich. Aber wenn man Expansion und Kompression als intrinsisch motivierte Modi sieht, können die Phasen der Ausdehnung und der Fokussierung unabhängig von personenbezogenen Merkmalen (wie beispielsweise das Alter) und sozialen oder externen Impulsen (wie beispielsweise Schule und Scheidung) eintreten. Man kann sich damit von holzschnitzartigen Programmabläufen von Lebensphasen verabschieden. Es spielt für diese Betrachtung auch keine Rolle, auf welcher Stufe sich die Person befindet und ob es überhaupt definierten Stufen und eine festgelegte Abfolge gibt. Es geht nur darum wahrzunehmen, ob Menschen sich gerade eher in einer Phase des Wachstum und der Ausdehnung (Expansion) oder Vertiefung und Verinnerlichung (Kompression) befinden – diese verlaufen nicht immer gleich und selten parallel. Aber diese Unterscheidung der jeweiligen Blickrichtungen – nach außen oder nach innen – kann helfen zu erkennen, wo andere Menschen gerade stehen oder ihre vielleicht temporär diametral unterschiedliche Entwicklungsdynamik aufdecken.

Die Lebensphasen zweier Menschen können sich temporär diametral zwischen Expansion und Kompression gegenüberstehen.

Diese Perspektive kann helfen, negative Paardynamiken (ein Partner geht in den Ruhestand, während der andere einen weiteren Karriereschritt macht) oder auch Familienkonstellation (rebellierende Teenager vs. harmoniebedürftiger Eltern) zu verstehen. Die unterschiedlichen Orientierung zwischen Wachstum und Verdichtung erklären auch unterschiedliche Bedürfnisse von Personen in diesen Phasen. Es kann hilfreich sein, diese aufzudecken, zu diskutieren und untereinander auszuhandeln. Nicht die Unterschiede per se machen uns das Leben schwer, sondern diese nicht zu erkennen, um mit ihnen umgehen zu können.

Mit dem Lebensphasen-Modi der Expansion und Kompression liegt ein pragmatischer Ansatz vor, der Zugang zur Bewertung von dynamischen Spannungen liefern kann, ohne komplexe Ableitung- und Herleitungsmodelle bemühen zu müssen. Eine Art „Lackmus“-Test, der schon mal eine Menge an Antworten liefern kann, ohne eine komplette Analyse fahren zu müssen.

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