Jahr: 2022

  • Ost und West: Wir müssen reden!

    Ost und West: Wir müssen reden!

    Ich habe lange gezögert, ob ich überhaupt etwas zu diesem Thema schreiben sollte. Wenn jemand aus der alten Bundesrepublik etwas über die Einstellung der Menschen, die in dem Teil Deutschlands leben, der die ehemalige DDR war, ist das ein bisschen so, als würde ein Mann etwas zum Thema Menstruation beitragen wollen: Wer ist nicht selber erlebt hat, der möge gefälligst die Klappe halten!

    Aber es nützt nichts: Wir müssen reden und wir müssen zuhören. Und wir müssen verstehen, warum es dem anderen vielleicht schwerfällt, die Dinge, über die wir reden, zu verstehen. Dann müssen wir noch mehr reden und noch mehr zuhören. Das hilft grundsätzlich bei jeder Form von Beziehung: Bei einem Paar, dass nach vielen Jahren Ehe das Gefühl hat, nur noch nebeneinanderher zu leben, aber auch bei Menschen, die von der westdeutschen Geschichte oder der ostdeutschen Geschichte geprägt wurden. Es ist nicht einmal notwendig, in der ehemaligen DDR geboren zu sein, auch Generationen von sogenannten „Nachwendekindern“ empfinden sich weiterhin beziehungsweise nun erst recht als „Ossis“. Und es waren die „Wessis“, die den Ostdeutschen zum „Ossi“ gemacht haben. Wenn ich es richtig gelesen habe, dann ist die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung auch eine Geschichte der Missverständnisse sowie der Stigmatisierungen.

    Die Mauer ist weg, aber eine deutsche Einheit, die diesen Namen verdient hätte, hat es nie gegeben. Rechts und links des ehemaligen eisernen Vorhangs bleibt man zu verschieden. Und weil das lange Zeit nicht so gesehen wurde, nun erst recht!

    „Die ostdeutsche Identität der Nachwendekinder sind insgesamt eine Reaktion auf drei Dinge“, schreibt ⏩ Valerie Schönian in ihren Buch ⏩ „Ostbewsusstsein“ auf Seite 94 und zitiert dann den Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak: „Die Sozialisationserfahrung mit ostdeutschen Eltern, der pauschalisierende Schulunterricht und das Gefühl der Fremdzuschreibung als Ostdeutsche.“ Man wird nicht als „Ossi“ geboren, sondern zum „Ossi“ gemacht: Durch die Eltern, die ostdeutsche Sozialisation und die Medien.

    Das ist alles an sich logisch und nachvollziehbar: Wenn sich ein politisches Gesellschaftssystem auflöst, bleiben die Menschen, die darin aufgewachsen geprägt von den Werten, die das bisherige System vermittelt hat. Davon werden sie einiges – vermutlich größtenteils unbewusst und als Sub- oder Kontext – auch an nachfolgende Generationen weitergeben. Das gelte auch für jegliche Traumata: „Unsere Untersuchungen und die anderer haben ergeben, dass durch die Fähigkeit des Menschen zur Resonanz traumatische und andere belastende Erfahrungen von Eltern an die nächste und übernächste Generation weitergegeben werden können.“ Das schreibt ⏩ Udo Baer in seinem Buch ⏩ „DDR-Erbe in der Seele“ auf Seite 178. Diese Weitergabe erfolgt nicht verbal, sondern auf der emotionalen Ebene. Natürlich muss man hier vorsichtig sein, denn Baer ist als Kind mit seinen Eltern aus der DDR geflohen und gilt eigentlich so als „Westdeutscher“. Die nonverbale Weitergabe von Traumata gab es natürlich auch schon vor der DDR: Wer im Dritten Reich sozialisiert wurde, konnte nach dem Krieg nicht aus seiner Haut – aber solche Zusammenhänge wurden eher totgeschwiegen, denn die junge Republik hatte andere Sorgen.

    Das Schweigen der Eltern- und Großelterngeneration ist grundsätzlich problematisch, denn es verhindert an ihren Erfahrungen lernen und durch Verständnis die eigene Situation reflektieren zu können. Insoweit ist es zu begrüßen, dass eine jüngerer Generation in Ostdeutschland Geborener diesen Dialog sucht und einfordert – so wie es ⏩ Johannes Nichelmann tut und seine eigenen Erfahrungen eindrucksvoll und ausführlich in seinem Buch ⏩ „Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ festhält.

    Ganz mein Reden: Wir müssen reden!

    Was bei Schönian (vgl. u.a. S. 91) und Nichelmann (vgl. u.a. S. 56ff) grundsätzlich mitschwingt: Erst die Konfrontation mit Westdeutschen habe aus den Ostdeutschen „Ossis“ gemacht. Ursprünglich hätten sich viele nur als „Deutsche“ gesehen, aber das westdeutsche Empfinden der Osten sei etwas Fremdartiges, habe eigentlich erst zur Ausprägung einer Ostidentität geführt. Ob Reisewarnungen in den Westen geholfen hätten? Man weiß es nicht. Aber wenn man das so liest, könnte man meinen, dass die Ostdeutschen die Opfer sind. Bewerten möchte ich das an dieser Stelle nicht (auch an keiner anderen).

    Diese Abgrenzung zeige sich auch in der Wahrnehmung, dass ein Problem in Ostdeutschland ein ostdeutsche Problem sei, wohin gegen ein Problem in Westdeutschland ein gesamtdeutsches sei: „Eine Reaktion auf dieses Phänomen ist eine Identitätsbildung der separierten Gruppe.“ (Nichelmann, S. 59) Die Ausgrenzung der einen stiftet die Identität der anderen.

    „Ostdeutschland muss als Sozialisationsraum etabliert werden“, fordert eine Gesprächspartnerinnen von Valerie Schönian (S. 59) und die Autorin ergänzt später, dass vorherige Generationen „ihr Ostdeutsch-Sein am liebsten ablegen. Ich will es mir erobern.“ (S. 74) Das mag auch einfacher möglicher sein: „Wo noch nicht alles da ist, kann mehr Neues entstehen. Wo Platz ist, lässt sich besser atmen.“ (S. 84) Das ist natürlich alles legitim und machbar. Deutschland ist ein bunter Flickenteppich regionaler Identitäten und jeder findet noch jemanden, von dem er sich abgrenzen kann: Die Kölner von den Düsseldorfern, die Duderstädter von den Eichsfeldern, die Franken von den Bayern.

    Ich habe nichts dagegen, dass jemand seine „Ost-Identität“ auslebt, so wie manche Bayern, die gerne ihre „Mia san mia“-Mentalität in Lederhosen und Seppelhut ausleben – finde ich zwar lächerlich (also Lederhosen und Seppelhut), aber ich bin auch tolerant, so lange jeder seinen eigenen Stiefel durchzieht und niemanden dafür schlecht macht (so wie ich gerade ein bisschen). Interessant ist, dass es aber im Gebiet der ehemaligen DDR weniger um Spreewald versus Erzgebirge geht, sondern um ostdeutsch gegen westdeutsch.

    Dahinter steckt das Meme vom Migrant im eigenen Land

    Es taucht immer wieder das Motiv auf, dass den Ostdeutschen durch die Auflösung der DDR der Zugang zu ihrer Vergangenheit fehle: „Ich fühle mich wie ein Einwandererkind, wie der Sohn von jemanden der aus der Türkei hergekommen ist. Der kann, wenn er will, sich das Land seines Vaters anschauen. Ich kann es nicht.“ So zitiert Nichelmann eines der Nachwendekinder, mit denen er spricht (S. 87). Auch Maximilian geht es so: Er „fühlt sich wie das Kind von Einwanderern, das die Heimat seiner Eltern nicht mehr besuchen kann, denn sie ist schlichtweg nicht mehr existent“. (S. 126)

    Es mag fadenscheinig klingen, aber den wenigsten von uns sind Zeitreisen möglich.

    Ich weiß, dass ich gleich ausgebuht werden, aber mit der DDR ist eigentlich auch die alte BRD verschwunden. Das mag sich vielleicht für viele nicht so angefühlt haben, aber auch das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, ist verschwunden. Ich bin im Zonenrandgebiet aufgewachsen, was es in dieser Form nur geben konnte, weil es die DDR gab – inklusive „kleinem Grenzverkehr“ und „Zonenrandförderung“. Mit dem Untergang der DDR veränderte auch die Kleinstadt im ehemaligen Zonenrandgebiet ihr Gesicht: Mit der wegfallenden Förderung zogen auch etliche Industriebetriebe weg und die Bundeswehr-Einheiten wurden weiter östlich verlegt. Damit gingen Arbeitsplätze und somit auch Einwohner verloren – zwischenzeitlich fast 30 Prozent. Inzwischen positioniert sich das Städtchen als Seniorenparadies.

    Meine Kinder können es nicht mehr sehen, wie es vorher war – dieses Fehl wird bei ihnen nun folgerichtig zur Ausbildung einer starken Südniedersachsen-Identität führen. Oder vielleicht auch nicht. Ist vielleicht auch besser so. Mein Vater ist 1956 aus Ungarn geflohen: Das Land gibt es noch und ich kann da noch hinfahren. Aber auch das heutige Ungarn hat so gut wie gar nichts mehr mit dem Ungarn zu tun, aus dem mein Vater geflohen ist. Genauso wenig, wie die heutige Türkei, dem Land ähnelt, aus dem die „Gastarbeiter“ in den 1970er Jahren nach Deutschland kamen. Ich glaube, da machen sich einige nur etwas vor und romantisieren etwas, das so verloren ist wie der heilige Gral.

    Aber: Als Westdeutscher kann ich diesen Verlust natürlich nicht bewerten. Das steht mir nicht zu, denn im Westen hatten wir auch immer die bessere ökonomische Ausgangsposition, da – wie Valerie Schönian auf S. 86 schreibt – „wir ostdeutschen Nachwendekinder weniger Zahnarztpraxen erben werden als manch westdeutsche Altersgenossen“. Das stimmt: Ich habe sieben Zahnarztpraxen geerbt – und ihr so? Mal ganz ehrlich: Ich kenne nicht mal jemanden, der eine Zahnarztpraxis geerbt habt. Das macht mich nicht direkt zum „Ossi“, sondern wohl leider nur zu einem schlechten „Wessi“.

  • LinkedIn – Schlaraffenland der Berufstätigen

    LinkedIn – Schlaraffenland der Berufstätigen

    „Da hört ich Fische miteinander Lärm anfangen, daß es in den Himmel hinaufscholl, und ein süßer Honig floß wie Wasser voll einem tiefen Tal auf einen hohen Berg; das waren seltsame Geschichten.“ – so die ⏩ Gebrüder Grimm in ihrer Version des „Schlaraffenland“. Bereits die ⏩ Bibel spricht an 26 Stellen des Alten Testaments von einem „Land, darin Milch und Honig fließt“ (womit aber Israel gemeint ist).

    Auf jeden Fall plagt einem im Märchen oder im gelobten Land nicht eine Sorge, alles ist eitel Sonnenschein und das Leben ist schön – ganz so wie bei LinkedIn: Niemand findet seine Vorgesetzten noch sein Team kacke, Leistungen, Produkte und Dienstleistungen flutschen wie von selbst, die Arbeitsbedingungen übertreffen jegliche Vorstellungen und alle betriebliche Tätigkeit ist nachhaltig und im Einklang mit Natur, Mensch und Gesellschaft.

    Ich habe keine Ahnung, wo ihr arbeitet, aber ich würde gerne bei euch mitmachen! Zugegeben: Bei meinem Job ist natürlich auch nicht alles schlecht – aber manches könnte noch besser oder anders gemacht werden und wir arbeiten auch daran, mal schneller, mal langsamer, aber „stets bemüht“, während alle anderen scheinbar im Wellness-Bereich der Business-Welt sitzen und als Partypeople der Produktivität täglich die Welt verändern.

    Es gibt kein Burnout, keine inneren Kündigungen und kein Mobbing – schmutzige Wäsche wird hinter verschlossenen Türen gewaschen. Und mal ehrlich: Wer will schon lesen, was er oder sie täglich selbst erlebt? Ein bisschen Business-Eskapismus in die perfekte Illusion ist da schon angenehmer. Anderseits: Mich langweiligen das ewige Gruppenkuscheln von Teams, die sich bedingungslos lieben, die Lobgesänge der Führungskräfte auf die Belegschaft, bevor sie Filialen schließen und Produktionsstätten dicht machen und die selbstherrlichen Hinweise, man irgendetwas für sich gelernt, als man den Umgang indigener Bergvölker mit Bienen beobachtet oder sich mit der Konstruktion von Lehmhütten in Kenia befasst habe.

    LinkedIn in ist so ein bisschen das Schlagerfest der guten Laune bei Social Media. Ich versuche, meine Kindern zu erklären, dass Social Media nichts mit dem realen Leben zu tun hat – da machen Business-Netzwerke keine Ausnahme. Im Nachrichtengeschäft gilt „bad news is good news“, bei LinkedIn gilt „only better news is good news“. Darum sind andere immer bunter, erfolgreicher, schöner und reicher.

    Vielleicht bin ich auch in der falschen Bubble und in anderen Kreisen geht es ganz anders zu – bei Beobachtungen in Social Media sind die blinden Flecken der Beobachter ein grundsätzliches Problem. Ich habe auch keine Lösung, wie man es anders machen könnte: Ein Netzwerk des alltäglichen Scheiterns wird vermutlich auch schnell eintönig und langweilig. Und vielleicht feiert man sich auch gerne mal öffentlich, weil man sich an dieser Sichtbarkeit auch für eine gewisse Zeit festhalten kann.

    Ich nutze LinkedIn inzwischen wie Instagram: Ich scrolle schnell durch, verteile an alle Bekannten wahllos und ungelesen Herzchen, weil ich weiß, dass sie sich darüber genauso freuen wie ich und bin dann überrascht, wenn ich an einem „thumbstopper“ tatsächlich mal hängenbleiben, weil dort mal etwas anderes anders erzählt wird.

    Lasst uns einander überraschen – so bleibt LinkedIn lesenswert!

  • Männer in der Misere

    Männer in der Misere

    Männer in der Misere – oder warum Männer einen anderen Anstoß brauchen, um sich zu bewegen

    Männer sind Macher – so werden wir nach dem eigentlich längst überholten Gesellschaftsbild dargestellt und von einigen (teilweise von uns selbst!) noch so gesehen. Aber was machst Du als Mann, wenn Dein Lebensentwurf vor die Wand fährt? Dann machste erstmal nichts.

    Mir ging es so. Mir ging es nicht gut und ich wollte nicht allein im Dunkeln bleiben. Ich lese viel und gerne – und der Büchermarkt ist voll mit Ratgeber-Literatur in Lebenskrisen. Die erste Feststellung: Das meiste davon haben Frauen für andere Frauen geschrieben. Da fällt es manch männlichen Leser schwer, die geschlechtsspezifische Brille auszuschalten. Wenn es zum Beispiel um „toxische Beziehungen“ geht, sind stets Männer Gift für Frauen. Wer sich ohnmächtig fühlt, hat wenig Kraft für Transferleistungen, um sich ganze Bücher bei der Lektüre in vertauschten Rollen vorzustellen.

    Häufig haben Männer auch wenig Erfahrung mit den selbstreflexiven Methoden, die Ratgeber gut und gerne empfehlen: Trauertagebücher führen, Energielinien folgen, Herzchakramassagen. Für einige Männer ist es bereits schlimm eine weiche Seite an sich zu spüren, aber darauf herumzudrücken ist ihnen regelrecht unangenehm.

    Männer brauchen klare Ansagen

    Männern muss man sagen, was Sache ist. Und dabei darf man(n) sich auf einer klaren Sprache bedienen. Als mein über 80-jähriger Vater anfing mein Ratgeber-Buch zu lesen, rief er empört (als er auf S. 13 angekommen war): „Du hast da ‚Scheiße‘ geschrieben – das sagt man nicht!“ Aber wenn Dinge nun mal kacke sind, werden sie nicht dadurch besser, dass wir sie anders benennen.

    Genau so klar wollte ich mögliche Schritte vorgeben, die bei Weg aus der Wehmut hilfreich sein können:

    1. Akzeptiere, dass etwas schiefgelaufen ist.
    2. Trenne dich von deinen bisherigen Lebensentwurf und Reproduktionsversuchen desselben.
    3. Versinke nicht in Hass und Wut.
    4. Überprüfe, was die wirklich wichtig ist im Leben.
    5. Erkenne, wo du fremdgesteuert bist und was du dagegen machen kannst.

    In meinem Buch spreche von „Impulsen“ und sie heißen dort:

    1. Schlusspunkt setzen!
    2. Loslassen!
    3. Hassen unterlassen!
    4. Ziele justieren!
    5. Kontrolle zurückgewinnen!
    S. 19: Fünf Impulse für Männer in der Misere

    Zugegeben: Dahinter stecken keine neuen Erkenntnisse und bisher unbekannte Wahrheiten – aber gerade im Ratgeber-Segment wurde ja fast schon alles gesagt – aber eben noch nicht von jeden. Oder aber auch: Eben nicht für jeden. Man schreibt letztendlich das Buch, das man selber gerne gelesen hätte, aber das es bisher noch nicht in dieser Form gab.

    Genau das habe ich versucht: Themen und Aspekte der Reorganisation des eigenen Lebens für Männer in der Misere zugänglich und verständlich zu machen. Ob mir das gelungen ist, müssen andere sagen. Das Beste ist, du liest selber und gibst mir Rückmeldung:

  • In der Pandemie steckengeblieben

    In der Pandemie steckengeblieben

    Die Pandemie hat mit uns allen etwas gemacht. Wir mussten unser Leben herunterfahren – Modus: Lebenserhaltung, Warten im Standby-Betrieb. Nicht alle Systeme lassen sich immer wieder problemlos hochfahren: Es besteht das Risiko, dass einige von uns in der Erstarrung dieser Stasis steckenbleiben könnten. Stell dir vor, die Pandemie wird abgesagt und du hängst noch im Corona-Betrieb fest.

    Mit den drohenden Ende der Corona-Schutzmaßnahmen im März 2022, habe ich berechtigte Sorge in diesem Pandemie-Modus zu verharren. Ich stelle mir vor, der ehemalige Alltag kehrt zurück, Cafés und Restaurants füllen sich wieder, die Jugend macht Party und das Leben feiert Kirmes. Ich sitze stattdessen allein zuhause: isoliert, kontaktreduziert und FFP2-maskiert.

    Ich habe mich in den vergangenen zwei Jahre so daran gewöhnt, nichts zu tun, dass ich mir nicht sicher bin, was ich denn dann eigentlich tun sollte, wenn man wieder tun darf. Auch vor der Pandemie hatte ich kein Sozialleben in festen Strukturen mit Fußball-Training jedem Mittwoch und Herrenchor am Samstag Abend. Ich ging gern zu losen Veranstaltungsreihen rund um Medien und Social Media, die es immer wieder in unregelmäßigen Abständen gab. Da trafen man „Kollegeninnen und Kollegen“ und Menschen, die nett sind und sich für ähnliche Dinge interessieren – aber eigentlich keine Freunde im engeren Sinne sind.

    Meine Freunde wohnten überall in Deutschland verteilt, was sicher einer gewissen berufsbedingten Mobilität meinerseits geschuldet war. Dass es nicht so gut ist, die Freunde nicht direkt am Wohnort zu haben, merkt man erst, wenn man das Reisen und die Wochenendtrips wegen Reiseeinschränkungen und Kontaktreduktion einstellt. Umbrüche auf der privaten Seite führten dann dazu, dass ich eigentlich nur noch alleine zuhause hockte.

    Es ist nicht so, dass ich mich gelangweilt hätte oder nicht wusste, was ich tun könnte. Ich habe mich eigentlich ganz gut beschäftigen können. In Ermangelung von Alternativen habe ich diese Aktivitäten gehegt, gepflegt, kultiviert und ausgebaut. Ich habe viel recherchiert, viel gelesen, ein Buch geschrieben. Aber alles ist eben nicht etwas, was man nach Beendigung der Pandemie einfach mit einem größeren Kreis als Gruppenaktivität gut fortsetzen könnte.

    Der Krieg gegen das Virus geht zu Ende und nichts ändert sich für einen – so als hätte man das Kriegsende verpasst. So erging es ⏩ Yokoi Shōichi. Das „tapfere Schneiderlein“ war ein treuer Soldat und diente als Unteroffizier im 38. Infanterieregiment der 29. Mandschurei-Division. Als US-amerikanische Truppen 1944 die von Japan besetzte Insel Guam zurückeroberten, zog er sich mit ein paar Kameraden in den Dschungel zurück und verpasste die Kapitulation seines Heimatlandes. Erst acht Jahre später erfuhren sie durch Flugblätter, dass der Krieg vorbei sein. Aber Aufgeben wurde als unehrenhaft empfunden und so „kämpfte“ der Trupp weiter. 1964 starben die beiden letzten noch lebenden Gefährten, 1972 wurde der einsame Kämpfer von Fischern am Strand überwältigt, so dass sein ganz persönlich fortgesetzter Krieg erst knapp drei Jahrzehnte nach der letzten Schlacht seiner Einheit endete.

    Ich habe berechtigte Sorge, dass es mir ähnlich ergehen könnte und mich das postpandemische Yokoi-Shōichi-Syndrom ereilt: Ich habe zwei Jahre alles getan, um einer Infektion zu entgehen – Maske getragen, Abstand gehalten, so gut wie niemanden getroffen und jede Impfung angenommen, die mir geboten wurde. Auch im empfinde es als irgendwie „unehrenhaft“ bei einer Inzidenz von vermutlich über 1000 zu kapitulieren. Ich werde weiterhin wie Yokoi-Shōichi in einem Erdloch sitzen und gefühlt dauerhaft im Ausnahmezustand bleiben, während das Leben zurückkehrt und weiterzieht und mich dabei zurücklässt.

  • Vage Erinnerungen: Das Sopron-Project (Teil 1)

    Vage Erinnerungen: Das Sopron-Project (Teil 1)

    Erinnerungen sind mitunter trügerisch: Das, woran man glaubt, sich erinnern zu können, wird überlagert durch Gefühle, Empfindungen, Bewertungen und das, was andere darüber berichten – eingefärbt mit ihren Gefühlen, Empfindungen und Bewertungen. Kann man sich wirklich daran erinnern, wie der Polyacryl-Pulli immer so kratzte? War die Mauer hinter Omas Haus wirklich so hoch? Hatte man damals wirklich alle Schlümpfe im Setzkasten? Und waren es die beiden Nachbarskinder, die einem das Pausenbrot abnahmen und Katzen gegen den Strich streichelten?

    Ein guter Freund hat mir für den Abschluss des Studiums den guten Rat gegeben, meine Magister-Arbeit über ein Thema zu schreiben, das man schon immer möglichst allumfassend beleuchten wollte: Das ist das einzige, was einem in Anbetracht von sechs Monaten voller Recherchen, Analysen und Auswertungen bei der Stange halten kann. Und: Man wird sich nie wieder im Leben soviel Zeit nehmen, ein Thema so ausführlich behandeln zu können.

    Weise gesprochen – und so wahr. Zumindest für die meisten Lebensabschnitte. Wenn man älter wird, findet man manchmal Zeit, den ein oder anderen losen Faden noch mal aufzuheben – diesmal mit der Perspektive, das Thema abschließen zu können, so lange man dazu noch in der Lage ist.

    So ein Thema bei mir: Die Gedenktafeln von Sopron. Klingt komisch? Ist es auch irgendwie. Dahinter steckt eine vage Erinnerung. Ich weiß, dass ich als Kind – vielleicht mit 13 oder 14 Jahren (also vor gut 40 Jahren) – bei einer unserer Ungarn-Reisen, von dem Studienort meines Vaters in Westungarn sehr beeindruckt war. In meiner Erinnerung gingen wir durch die sozialistisch heruntergewirtschaftete Altstadt und mein Vater versuchte sich an Orte zu erinnern, die er zuletzt als Student besucht hatte. Bei der Rückbesinnung sehe ich die Häuser übersäht mit Gedenktafeln und als ich meinen Vater fragte, wer denn all diese berühmten Menschen seien, die man hier ehre, sagte er mir, dass man davon niemanden kenne. Das fand ich noch beeindruckender, denn ich fand bereits die hohe Dichte dieser Tafeln beeindruckend, aber dass diese für Menschen waren, die nicht einmal berühmt waren, beeindruckte mich noch viel mehr.

    So weit meine Erinnerung. Die Frage nur: Erinnere ich mich korrekt? Ist ja kein Problem: Google weiß schließlich alles! Mit der Wortkombination „Sopron“ und „Gedenktafel“ sprudelten die Treffer nicht so üppig wie erwartet – eine handvoll Verweise und am Fuß der ersten Trefferseite bereits der Link zu der ⏩ Sopron-Gedenktafel am Bundestag in Berlin. Das Ergebnis hatte mir eindeutiger vorgestellt. Nächster Anlauf: Nun wollte ich mir mit Bildersuche möglichst viele Bilder der Altstadt anzeigen lassen – wenn es da so viele Gedenktafeln gebe, wie ich meinte mich zu erinnern, dann müssten diese doch auf den Bildern zu sehen sein …

    Hm! Das war leider auch nicht so eindeutig, wie erhofft: Das hier auf diesem einen Bild, könnte eine Gedenktafel sein – wird leider nur unscharf, wenn man es vergrößert … Und hier auch … Aber das könnte auch ein Straßenschild sein oder auf eine Anwaltskanzlei oder Arztpraxis verweisen. So richtig befriedigend war diese Online-Recherche nicht.

    Letztendlich half da nur eines: Hinfahren und nachgucken! Der Plan stand und ich war gespannt, was mich in Sopron erwarten würde. Gewisse Risiken gab es: In 40 Jahren könnten die Häuser alle renoviert wurden sein und die Tafeln der Unbekannten dabei entfernt wurden sein. Mit dem Ende des Sozialismus hätte auch eine „Bereinigung“ des öffentlichen Gedenkens erfolgen können, so wie man aller Orten im ehemaligen Ostblock Marx- und Lenin-Denkmäler „entsorgt“ hat. In Ungarn hat man diesen Denkmäler der Vergangenheit eine Art Altersruhesitz in einem extra dafür angelegten ⏩ Skulpturen-Park gegönnt. Oder ich hatte mich einfach nur falsch erinnert.

    Anderseits waren die Risiken gering zu bewerten: Die Aussicht kurz nach der Lese den ⏩ Ponzichtern und ihren traditionellen Wein-Schenken einen Besuch abzustatten und bei schwacher Nationalwährung heftig und deftig pannonisch Schlemmen zu können, war nicht die Schlechteste. Gut 70 km südlich von Wien war auch in Ungarn mit guten Deutschkenntnissen zu rechnen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Sopron einst als Ödenburg die Hauptstand des Burgenlandes werden sollte. Die Recherche-Reise würde sich also so oder so lohnen und ich war gespannt.

    Im Oktober 2021 sollte ich mehr wissen und schlauer sein.

    Soviel sei als Spoiler hier schon mal verraten: Ja, es gab eine Menge Gedenktafeln in Sopron und es war deutlich anders, als ich es in Erinnerung hatte.

  • Geht immer: ein Bayer

    Geht immer: ein Bayer

    In Bezug auf Romane kann man mit Thommie Bayer nicht viel falsch machen. Ich habe vor etlichen Jahren so einiges bis damals fast alles von ihm gelesen, dann länger Pause gemacht und nun über den jüngsten Jahreswechsel „Vier Arten, die Liebe zu vergessen“ weggelesen. Ich habe mich vom Titel locken lassen und fand auch, dass der Klappentext eine interessante Geschichte versprach: „Emmis Tod bringt vier alte Schulfreunde wieder zusammen. Beinah zwei Jahrzehnte haben sie sich nicht gesehen, viel ist inzwischen geschehen. Und so verabreden sie sich noch Grab für ein Wochenende in Venedig: Die vier wollen endlich herausfinden, was ihre Freundschaft ihnen wert ist – uns was genau sie all die Jahre nicht losgelassen hat.“

    Aber ich hatte etwas ganz anderes erwartet: Irgendwie dachte ich, Emmi sei die Geliebte von allen vieren gewesen und jeder konnte auf seine Weise nicht loslassen. Erst im zeitlosen Sehnsuchtsort Venedig, der eine symbolgeschwängerte Projektionsfläche bietet, gelingt es ihnen, ihr kollektives Liebestrauma gemeinsam zu überwinden.

    Ganz so, war es dann doch nicht: Emmi war die Musiklehrerin, die aus vier verkrachten Internatsschülern eine Art ‚Barbershop Quartett‘ geformt hat. Sie hatten vermutlich später alle noch Sex mit der selben Frau (nicht die Musiklehrerin) – aber das ist nur eine Nebenlinie der Geschichte. Venedig und die detaillierte Beschreibung seiner Kunstschätze und Lebensart wird schon metaphorisch aufgeladen sein, aber in der Erzählung ist der Grund des dortigen Zusammentreffens eher pragmatisch angelegt, denn der es ist der Wohnort der Hauptfigur, die seine drei ehemaligen Sangesbrüder zu sich nachhause einlädt. Und überhaupt war ich ein bisschen verwundert, dass das Wiedersehen, das laut Klappentext das zentrale Erzählungselement zu sein schien, erst auf Seite 140 beginnt – also ziemlich genau in der Mitte des Buches.

    Das klingt jetzt alles ein bisschen so, als hätte mir das Buch nicht gefallen, aber ich fand es nicht schlecht – es war halt nur eine ganz andere Geschichte als vermutet. Und das ist ja auch nicht verkehrt, dass Literatur uns noch überraschen kann.

    Also bleibt es dabei: Thommie Bayer ist immer eine gute Wahl. Über den Anspruch mögen sich andere streiten, aber ich halte gute Unterhaltung auch für eine solide Leistung von Literatur. Eigentlich ein klassischer „Männerroman“ – ein Genre, das noch mit dem passenden Etikett hadert: „Lad Lit“ ist eher Nick Horby und „Fratire“ ist politisch nicht korrekt. Da ist es bei Bayer doch noch alles recht gesittet bis gesetzt. Obwohl die vier Freunde in dem Buch eigentlich gut zehn Jahre jünger sein müssten als ich, fehlte mir der Identifikationscharakter, den man ja gerne beim Lesen wiederfindet – oder ich bin dann als Zielgruppe doch zu alt.