Erinnerungen sind mitunter trügerisch: Das, woran man glaubt, sich erinnern zu können, wird überlagert durch Gefühle, Empfindungen, Bewertungen und das, was andere darüber berichten – eingefärbt mit ihren Gefühlen, Empfindungen und Bewertungen. Kann man sich wirklich daran erinnern, wie der Polyacryl-Pulli immer so kratzte? War die Mauer hinter Omas Haus wirklich so hoch? Hatte man damals wirklich alle Schlümpfe im Setzkasten? Und waren es die beiden Nachbarskinder, die einem das Pausenbrot abnahmen und Katzen gegen den Strich streichelten?

Ein guter Freund hat mir für den Abschluss des Studiums den guten Rat gegeben, meine Magister-Arbeit über ein Thema zu schreiben, das man schon immer möglichst allumfassend beleuchten wollte: Das ist das einzige, was einem in Anbetracht von sechs Monaten voller Recherchen, Analysen und Auswertungen bei der Stange halten kann. Und: Man wird sich nie wieder im Leben soviel Zeit nehmen, ein Thema so ausführlich behandeln zu können.

Weise gesprochen – und so wahr. Zumindest für die meisten Lebensabschnitte. Wenn man älter wird, findet man manchmal Zeit, den ein oder anderen losen Faden noch mal aufzuheben – diesmal mit der Perspektive, das Thema abschließen zu können, so lange man dazu noch in der Lage ist.

So ein Thema bei mir: Die Gedenktafeln von Sopron. Klingt komisch? Ist es auch irgendwie. Dahinter steckt eine vage Erinnerung. Ich weiß, dass ich als Kind – vielleicht mit 13 oder 14 Jahren (also vor gut 40 Jahren) – bei einer unserer Ungarn-Reisen, von dem Studienort meines Vaters in Westungarn sehr beeindruckt war. In meiner Erinnerung gingen wir durch die sozialistisch heruntergewirtschaftete Altstadt und mein Vater versuchte sich an Orte zu erinnern, die er zuletzt als Student besucht hatte. Bei der Rückbesinnung sehe ich die Häuser übersäht mit Gedenktafeln und als ich meinen Vater fragte, wer denn all diese berühmten Menschen seien, die man hier ehre, sagte er mir, dass man davon niemanden kenne. Das fand ich noch beeindruckender, denn ich fand bereits die hohe Dichte dieser Tafeln beeindruckend, aber dass diese für Menschen waren, die nicht einmal berühmt waren, beeindruckte mich noch viel mehr.

So weit meine Erinnerung. Die Frage nur: Erinnere ich mich korrekt? Ist ja kein Problem: Google weiß schließlich alles! Mit der Wortkombination „Sopron“ und „Gedenktafel“ sprudelten die Treffer nicht so üppig wie erwartet – eine handvoll Verweise und am Fuß der ersten Trefferseite bereits der Link zu der ⏩ Sopron-Gedenktafel am Bundestag in Berlin. Das Ergebnis hatte mir eindeutiger vorgestellt. Nächster Anlauf: Nun wollte ich mir mit Bildersuche möglichst viele Bilder der Altstadt anzeigen lassen – wenn es da so viele Gedenktafeln gebe, wie ich meinte mich zu erinnern, dann müssten diese doch auf den Bildern zu sehen sein …

Hm! Das war leider auch nicht so eindeutig, wie erhofft: Das hier auf diesem einen Bild, könnte eine Gedenktafel sein – wird leider nur unscharf, wenn man es vergrößert … Und hier auch … Aber das könnte auch ein Straßenschild sein oder auf eine Anwaltskanzlei oder Arztpraxis verweisen. So richtig befriedigend war diese Online-Recherche nicht.

Letztendlich half da nur eines: Hinfahren und nachgucken! Der Plan stand und ich war gespannt, was mich in Sopron erwarten würde. Gewisse Risiken gab es: In 40 Jahren könnten die Häuser alle renoviert wurden sein und die Tafeln der Unbekannten dabei entfernt wurden sein. Mit dem Ende des Sozialismus hätte auch eine „Bereinigung“ des öffentlichen Gedenkens erfolgen können, so wie man aller Orten im ehemaligen Ostblock Marx- und Lenin-Denkmäler „entsorgt“ hat. In Ungarn hat man diesen Denkmäler der Vergangenheit eine Art Altersruhesitz in einem extra dafür angelegten ⏩ Skulpturen-Park gegönnt. Oder ich hatte mich einfach nur falsch erinnert.

Anderseits waren die Risiken gering zu bewerten: Die Aussicht kurz nach der Lese den ⏩ Ponzichtern und ihren traditionellen Wein-Schenken einen Besuch abzustatten und bei schwacher Nationalwährung heftig und deftig pannonisch Schlemmen zu können, war nicht die Schlechteste. Gut 70 km südlich von Wien war auch in Ungarn mit guten Deutschkenntnissen zu rechnen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Sopron einst als Ödenburg die Hauptstand des Burgenlandes werden sollte. Die Recherche-Reise würde sich also so oder so lohnen und ich war gespannt.

Im Oktober 2021 sollte ich mehr wissen und schlauer sein.

Soviel sei als Spoiler hier schon mal verraten: Ja, es gab eine Menge Gedenktafeln in Sopron und es war deutlich anders, als ich es in Erinnerung hatte.

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