Jetzt muss ich mich aber sputen, um noch vor Ablauf des „Beuys-Jahres 2021“ den zweiten Teil meiner Begegnungen mit Beuys zu liefern. Ging es im ⏩ ersten Teil eher um reale Begegnungen – mit dem Meister selbst 1992 auf der „documenta 7“ oder mit Tomasz Piwarski und Jenny Trautwein, die Sprößlinge aus den 7000 Beuys Eichen als ⏩ „Beuys Babys“ herangezogen haben – so geht es im zweiten Teil eher um einen neuen Blick eines Kunstlaien auf das Werk des Ausnahmekünstlers.
Was würde sich für einen solchen zweiten Blick besser anbieten als Ausstellung, die anlässlich des Jubiläums zusammengestellt wurde? Die ⏩ Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen bot in der ersten Jahreshälfte im Düsseldorfer K20 ⏩ „Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys“ an. In der Einleitung des korrespondierenden ⏩ Webseite heißt es dazu: „Sein 100. Geburtstag im Jahr 2021 bietet Anlass sein komplexes Wirken und seine internationale Ausstrahlung neu zu entdecken und kritisch zu befragen.“
Also: Auf geht’s zum Neuentdecken und Hinterfragen! Mein erster Eindruck: Ich kam mir verdammt alt vor! Alles, was ich in meiner Jugend rund um Kunst als hipp und revolutionär abgespeichert hatte, wirkte piefig, oll und hatte Staub angesetzt. Videokunst, die auf VHS Kassetten aufgenommen wurde, leidet mit der Zeit. Unsere HD und Ultra-HD gewohnten Augen, wundern sich über über Graustufen, zuckelnde Bildraten und Streifen bei der geringen Auflösung. Allein die Technik lässt Vieles heute amateurhaft wirken was einst die Avantgarde war.
Erschwerend kommt hinzu, dass Aktionskunst in erster Linie Kunst während der Aktion ist – also an einem Punkt der Zeitleiste, der schon lange zurückliegt. Dokumentarische Aufnahmen von Aktionskunst haben etwas von einer Fotokopie der Mona Lisa. Und sie sind mitunter lang: Wenn Joseph Beuys irgendwo vier Stunden auf einem Bein stand, wer von uns setzt sich heute vier Stunden vor einen Monitor und schaut sich die Performance in 600 x 400 Bildpunkten an? So war ich schneller mit der Ausstellung fertig als erwartet.
Das ist keine Kritik an den Ausstellungsmachern. Eigentlich hatten sie die tolle Idee, den Arbeiten von damals aktuellere Beiträge zuzuordnen, die ähnliche Aspekte aufgreifen, weiterführen oder in ein neues Licht stellen. Das meiste davon waren dann noch mehr Videos.
Weil ich nun Zeit gewonnen hatte, ging ich gleich auch noch in die zweite Ausstellung im Haus: ⏩ „Christoph Schlingensief. Kaprow City„. Wieder wurden Erinnerungen wach: Studentenzeit in Berlin mit einer gewissen Begeisterung für die gezielt gesetzten Provokationen, die von der Volksbühne kamen. Der Raum war dunkel und muffig. Darin ein „begehbares Bühnenbild“, dass aus Holzresten und Sperrmüll 2006 für die Volksbühne zusammengetackert wurde und danach in ein Schweizer Museum wanderte. Provokantes empfand ich nicht beim Betrachten. Für mich war das Angebot aus der Zeit gefallen. Ich fand davon nichts cool, sondern nur schmuddelig und ranzig. Nun, ich bin ja auch kein Kunstexperte.
Meine persönlichen Bewertungen aus heutiger Sicht schmälern nicht die Leistungen der künstlerischen Arbeiten: Ich glaube, dass die Impulse, die Beuys auf jeden Fall (und Schlingensief vielleicht) gesetzt haben, für die Entwicklung der Kunst in der damaligen Zeit revolutionär waren und auf jeden Fall unsere Anerkennung verdienen. Unsicher bin ich mir jedoch bei der Frage, wie man diese Leistungen konserviert, wie man vergangene Zeitgeschichte einfängt und wieder zugänglich macht. Vielleicht sollten Erinnerungen der gute Nährboden sein, auf dem Neues wachsen kann.
Womit wir wieder bei Tomasz‘ und Jennys kleinen Eichen wären. Ich hatte 2021 noch eine weitere virtuelle Begegnung mit ihrer Idee – und diese ereignete sich bei der Lektüre eines Buches, das bereits lange ungelesen in meinem Regal stand und versprach so gar nicht nichts mit dem Thema zu tun zu haben: ⏩ „Japanische Bergleute im Ruhrgebiet„. Aber ich staunte nicht schlecht, als ich auf Seite 234 auf die Geschichte von ⏩ Naoto Tajimas Eiche gestoßen bin. Der Goldmedaillengewinner im Dreisprung bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin war zeitweise der Verbindungsmann des deutsch-japanischen Bergbau-Programms. Die Gewinner erhielten neben den Medaillen und dem Lorbeerkranz noch einen Eichensetzling. Tajima pflanzte seinen am Rande des Leichtathletikfeldes der Landwirtschaftsfakultät der Kaiserlichen Universität Kyoto. Symbolisch genug starb der Baum nach dem Tod des Sportlers und seiner Frau ab. Es wurden Setzlinge aus den Zweigen gewonnen, von denen einer Kobe und ein anderer in Iwakuni weiterwächst.
Wer sich daran stört, dass diese an sich schöne Geschichte ihren Ursprung in den Olympischen Spielen der Nationalsozialisten hat, kann eine vergleichbare Spur bei den ⏩ „Lutherbäumen“ finden: „Insbesondere an runden Jubiläen von Ereignissen aus Luthers Leben oder der Reformationsgeschichte wurden vielerorts Lutherbäume gepflanzt.“ Etliche davon waren Setzlinge anderer Lutherbäume andererorts. So wie auch die riesige Lutherbuche vor dem Lübecker Dom, die 1873 als ein Ableger der Lutherbuche aus Bad Liebenstein in Thüringen zur 700 Jahrfeier des Domes in die Hansestadt kam, die wir ebenfalls im Sommer 2021 besuchten.
Aber zurück zu Beuys: Im Herbst diesen Jahres bin ich doch noch mal auf die Suche nach dem Künstler gegangen. Und zwar in seine Geburtsstadt Krefeld – „umme Ecke“ von hier. Obwohl Beuys selber Kleve als seinen künstlerischen Geburtsort gewählt hat. Es passt zum Künstler, dass seine Geburt am 12. Mai 1921 eine Art Mysterium ist: In der offiziellen (Krefelder) Geburtsurkunde wird der „Dampfmühlenweg“ ohne Hausnummer angegeben – ⏩ man mutmaßt, dass er auf dem Gehweg, in einem Hauseingang oder einer Droschke geboren wurde. Seine Mutter soll behauptet haben ihren später berühmten Sohn beim Umzug von Kleve nach Krefeld im Straßengraben entbunden zu haben. Die damalige Meldeadresse: Alexanderplatz 5 in Krefeld. Dort hat der Joseph Beuys seine ersten drei Lebensmonate verbracht – und dort hängt auch eine Gedenktafel, die genau das besagt.
Dies Verwirrspiel um seine Geburt macht mir Beuys als Freak irgendwie wieder sympathisch. Er bricht auch hier die klassischen Erwartungsmuster und schreibt Regeln neu, in dem er sich seinen Geburtsort selber wählt. So wie er 1980 in der TV-Sendung „Lebensläufe“ gesagt haben soll: „Also habe ich das Leben zum Kunstwerk erklärt.“ Das, finde ich, kann man so stehen lassen.