Ich staune bei dem Reality-Format ⏩ „Hochzeit auf dem ersten Blick“ auf Sat.1 immer wieder: In Deutschland stehen immer mehr Menschen der Wissenschaft immer skeptischer gegenüber – egal ob es dabei um Corona oder den Klimawandel geht -, aber wenn es um das Privateste überhaupt geht, dann soll „aus Wissenschaft Liebe werden“ können, wie es die Sendung verspricht. Dabei ist die Erfolgsquote mehr als jämmerlich: Von 46 Paaren, die sich in den ersten neun Staffeln bisher das Ja-Wort gegeben haben, sind lediglich nur noch fünf Ehepaare verheiratet (Stand November 2023).
Wer ohne TV-Beteiligung heiratet, hat trotz hoher Scheidungsraten in Deutschland fünffach höhere Chancen noch verpartnert zu sein: Während bei „Hochzeit auf den ersten Blick“ die Quote grob bei 100 zu 10 steht (10 Prozent), ist sie in der freien Wildbahn eine Fifty-Fifty-Chance (also 50 Prozent). Dennoch betonen alle Kandidatinnen und Kandidaten, dass sie an das Experiment glauben – vielleicht weil ihnen vorgegeben wurde, dies zu sagen oder sie tun es tatsächlich.
Und damit sind sie nicht allein: Jedes Jahr bewerben sich ⏩ 3.500 bis 5.000 Kandidatinnen und Kandidaten (wobei die Frauenquote leicht höher ist) für eine neue Staffel, die ebenfalls daran glauben, dass Stimmproben, Schnüffeltests und das Matching von Eigenschaften und Interessen als stabile Basis für eine erfolgreiche Beziehung ausreichen. Tun sie scheinbar nicht.
Für die wahre Liebe scheint so etwas wie die „geheime Zutat“ zu fehlen, die die wissenschaftliche Theorie eben nicht entdecken kann. In der ⏩ Brigitte vermutet Simone Deckner, dass „oft ganz andere, kleine Dinge darüber [entscheiden], ob wir uns verlieben“ – zum Beispiel, wie er seine Zigarette hält oder die Farbe seiner Jeans. Aber die Teilnahme kann natürlich jedoch auch ganz anders motiviert sein – bis hin zum Wunsch der „Fünf-Minuten-Prominenz“, wenn man einmal im Reality-TV war: Selbst wenn ich gar nichts kann, was irgendjemand im Fernsehen sehen möchte, kann ich mich immer noch heiraten lassen.
Aber was treibt Menschen dazu, bei etwas anzutreten, dessen Erfolg eher mehr als unwahrscheinlich ist? Ganze ehrliche Antwort? Ich weiß es nicht. Eigentlich schade, diese schöne rhetorische Rampe verschenkt zu haben, aber Menschen spielen auch Lotto und ich weiß nicht, warum.
Grundsätzlich sehe ich zwei grundlegende Beweggründe:
Der Mensch sucht einfache Lösungen.
Darauf basiert unter anderem auch der Erfolg politischen Populismus: Unsere Welt wird immer komplexer, wie schön für einzelne, wenn jemand einfache Antworten bieten kann. Denn dann kann man glauben, man sei deswegen arbeitslos, „weil die Ausländer den Deutschen die Jobs wegnehmen“. Und:
Der Mensch hofft darauf, dass andere seine Probleme lösen mögen.
Darauf basiert unter anderem auch der Erfolg von Religion: Wenn einem wie zum Beispiel im Psalm 69, Vers 2 der Bibel „das Wasser bis zum Hals steht“, kann man entweder auf Gottes Hilfe hoffen, oder selbständig mit Schwimmbewegungen beginnen – wie es angeblich die Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr Soldaten ab einer Wassertiefe ab 1,20 vorschreibt.
Zeitgleich trauen viele Deutsche der Wissenschaft nicht mehr so ganz über den Weg. Zwar sah man 2018 ⏩ „keine grassierende Wissenschaftsskepsis“, aber immerhin war gut die Hälfte der deutschen Bevölkerung bezüglich ihres Vertrauens in die Wissenschaft unentschieden oder skeptisch. 2020 fanden es 82 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Studie wichtig, ⏩ wissenschaftliche Aussagen selber nachprüfen zu können. Das finde ich beachtlich, denn ich sehe mich kaum in der Lage, die „experimentelle Methoden zur Erzeugung von Attosekunden-Lichtpulsen“, die in diesem Jahr mit dem ⏩ Nobelpreis in Physik ausgezeichnet wurden, selber nachzuprüfen. Oder die Wirkweise von mRNA-Impfstoffen. Oder ⏩ SRES-Szeanarienentwicklung (im Unterschied zu RCP-Szenarienentwicklung) zur Prognose künftiger Klimaereignisse. Manchmal muss man eben doch glauben – oder darauf vertrauen, dass es andere beherrschen. Ob ich das jedoch in Herzensangelegenheiten machen würde? Wohl eher nicht – obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass sich das viele Wünschen würden.
Wenn ich „Hochzeit auf den ersten Blick“ schaue und den Spruch, dass „aus Wissenschaft Liebe werden“ könne, dann habe ich immer so einen Ohrwurm im Hinterkopf: