Kategorie: Gelesen

  • Self fulfilling Verschwörungstheorie vom toten Internet

    Self fulfilling Verschwörungstheorie vom toten Internet

    Die „Dead Internet Theory“ ist eine Verschwörungstheorie. Da ist sich das Internet an vielen Stellen einig. Aber, wenn man sich die aktuellen Entwicklungen anschaut ist, ist sie nicht ganz so abwegig wie die Existenz Bielefelds.

    „Die Dead Internet Theory besteht aus zwei Behauptungen. Zum einen behauptet die Theorie, das Internet sei ab 2016 oder 2017 „tot“. Damit ist gemeint, dass hauptsächlich Bots interagieren würden und die menschliche Interaktion nur noch einen Bruchteil ausmache. Zum anderen geht damit meistens die Annahme einher, dass eine geheime Gruppe (oder eine künstliche Intelligenz selbst) das Internet nutze, um Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung via Desinformation und Fake News zu nehmen.“

    So weit die ⏩Wikipedia – total irre oder doch inzwischen nicht mehr so gänzlich durchgeknallt? Wenn der reichste Mensch der Welt mit seiner eigenen ⏩Privat-KI eine Online-Enzyklopädie erstellen lässt, die die Welt nach seinen Vorstellungen erklärt, dann sind Teile der „Verschwörung“ bereits Realität. Wenn der Reddit-Mitbegründer ⏩Alexis Ohanian in der Youtube Tech-Show TBPN davon spricht oder der News-Influencer Fabian Grischkat auf dem Kommunikationskongress 2025 in Berlin in einem Vortrag unter dem Titel „Das Geschäft mit Fake News“ von der Zunahme des von Bots generierten Datenverkehrs spricht, scheint das Ganze nicht vollständig an den Haaren herbeigezogen zu sein.

    Dass das Volumen des Bot generierten Datenverkehrs steigt, ist statistisch messbar:

    von ⏩https://de.statista.com/infografik/27498/anteil-des-durch-bots-verursachten-webtraffics/

    Zählen wir die schädlichen und unschädlichen Bot zusammen (denn die Verschwörungstheorie geht von Bot generierten Datenverkehr ohne Vorzeichen aus), so betrug der Anteil in 2019 37,2 Prozent und in 2023 bereits 49,6 Prozent. Also fast die Hälfte – wenn auch nicht die Mehrheit, also ganz knapp noch nicht die Mehrheit. Aber vielleicht steckt ja auch schon bereits Verschwörung dahinter, dass die Zahlen nicht weiter erhoben wurden, kurz bevor der Anteil kippte.

    Ich musste an das Buch „Das Digitale Debakel“ von Andrew Keen aus 2015 denken, dass ich erst neulich geschafft habe zu lesen. Da stand bereits vor zehn Jahren auf dem Buchdeckel: „Warum das Internet gescheitert ist – und wie wir es retten können“. Vermutlich nicht prophetisch, sondern das Ergebnis guter Beobachtung und vorausschauender Bewertung. Im Kern geht es um die kapitalistische Vermachtung von virtuellen Räumen. Algorithmen sorgen dafür, dass zum Beispiel nur ein Prozent der Content-Creator Sichtbarkeit und ggf. auch mikroskopische Gewinnanteile: „Die Spielregeln der New Economy sind daher dieselben wie in der Old Economy – nur mit Aufputschmitteln. (S. 62) Es verschwindet die Mitte, die durchschnittlichen Nutzerinnen und Nutzer, die sich in der Unsichtbarkeit der digitalen Weiten auflösen.

    Das sind nicht direkt Todesvisionen, aber durchaus sich abschwächende Vitalzeichen. Tatsächlich sucht der Mensch weiterhin den anderen Menschen – biologistisch bleiben wir Herdentiere. Uns missfällt daher die Vorstellung, dass wir im Netz nur noch Bots kommunizieren. Je weniger Menschen digital aktiv sind, desto massiver muss der Bot-Einsatz werden, um die letzten Überlebenden aufzuspüren und zum Handeln zu bewegen. Denn es ist eher unwahrscheinlich, dass künftig Bot bei anderen Bot einkaufen gehen werden – und wenn der Geldstrom stillsteht, ist auch das Internet tot.

  • Was Männer kosten

    Was Männer kosten

    „In erster Linie sehr viele Nerven ….“ werden sicherlich etliche weibliche Leserinnen denken. Aber hier geht es tatsächlich um Geld und konkrete Summen.

    Spoiler: Männer kosten der Gesellschaft über 60 Milliarden Euro zusätzlich – also nur in Deutschland, auch nur konservativ überschlagen und nur einberechnet, wovon überhaupt Zahlen direkter Kosten vorliegen.

    Bei den messbaren Kosten geht es um Haftstrafen, häusliche Gewalt, Drogenkomsum, Diebstahl, Wirtschaftskriminalität, ungesunde Ernährung, Fußball-Randale und Verkehrs-Rowdietum. In all diesen Felder haben die Herren der Schöpfung die Nase ganz weit vorne. Der Anteil den Frauen an diesen volkswirtschaftlichen Schäden haben ist eher gering und in Berechnungen des Buches bereits abgezogen.

    Hinzu kommen noch indirekte Kosten: Durch Ausfälle am Arbeitsmarkt durch Krankheit, Verletzung oder Haft und natürlich auch die Schädigung anderer durch dieses Verhalten. Dessen Ursachen der Autor Boris von Heesen zur recht im Patriarchat und den überlieferten Rollenbildern von Männern und Frauen sieht. Die „harten Männer“ benehmen sich wie die „wilden Kerle“ und hauen alles zu klump. Das kostet der Gesellschaft einiges. Das ist kreass zu lesen und auch gut und nachvollziehbar mit Quellen belegt.

    So weit die ersten beiden Teile. Im 3. Teil des Buches geht es darum, was man dagegen machen könnte. Ich denke an dem Punkt, dass wir überkommene Rollenbilder aufweichen und auflösen sollten, darin kann man sich schnell einig werden. Das es dabei auch um die Anerkennung derzeit nach vorrangig von Frauen besetzten Berufsrollen geht, ist auch nachvollziehbar. Schwieriger wird es, wie man den Wandel in die Köpfe bekommen soll: Der Autor schlägt dafür in erster Linie Verbände und Lobbyarbeit vor. Beratung und Politik sollten das Umfeld schaffen, in dem die Bevölkerung dazu bereit wäre, sich neuen Rollen und Regeln zu öffnen. (Gegen-) Finanziert wird das mit dem Geld, was dann weniger für patriarchatsbedingten Kosten ausgegeben werden müssen – also wird es durch Einsparungen nachträglich finanziert. Das sind immer schwierige Rahmenbedingungen – vor allem in einem Umfeld, in dem Lust auf Diversity, Wokeness und Queerness immer weiter zurückgeht und viele gesellschaftlichen Gruppen glauben, die alten Rollenbilder für sich neu entdeckt zu haben.

    Während sich insbesondere der erste (zahlengetriebene) Teil wie eine spannende Doku lesen lässt, ist insbesondere der dritte Teil eher ein utopischer Traum einer besseren und gerechteren Welt, die viele Kräfte aber nicht unbedingt haben, wenn sie glauben dadurch ihre Privillegien aufgeben zu müssen. 

    Und vermutlich lesen ohnehin nur Männer, die bereits jenseits der tradierten Rollenbilder leben, überhaupt nur dieses Buch: Männer, die sich Väter einbringen, ihre Arbeitszeiten reduziert haben, damit Ehefrauen und Partnerinnen Anschluss im Job behalten, die eher Fahrrad und Öffis anstatt Auto fahren und nicht jeden Samstag stockbesoffen im Stadion die Fans der Gegenmannschaft verprügeln. Dann kann man das Buch als eine Art Schulterklopfen lesen, aber andere, die sich für solche Themen ohnehin nicht interessieren, werden auch nicht mit diesem Buch erreicht.

  • VÖA – Rückblick auf eine Kommunikationsutopie

    VÖA – Rückblick auf eine Kommunikationsutopie

    VÖA – „Verständigungsorientierte Öffentlichkeitsarbeit“ – das war der ‚heiße Scheiß‘ in der PR-Seminaren an der Uni Anfang der 1990er Jahre. Tatsächlich stand die These eines Paradigmenwechsels im Raum: Öffentlichkeitsarbeiterinnen und Öffentlichkeitsarbeiter liefern nicht mehr nur mundgerechte Info-Happen an die Journalistinnen und Journalisten, sondern moderieren gesellschaftliche Prozesse – ohne darüber nachzudenken, warum uns jemand dafür bezahlen sollte.

    An eine grundlegende Studie zu diesem Thema konnte ich mich noch erinnern: „Public Relations als Konfliktmanagement“ von Roland Burkart von 1993. Das Modell einer verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit wurde am Beispiel der partizipatorischen Planungsprozesse zweier Sondermülldeponien in Niederösterreich untersucht. Spoiler: Hat nicht funktioniert, eine Verständigung kam nicht zu Stande.

    Trotzdem finde ich es hin und wieder spannend, Ideen von früher nachzuspüren und im Abstand von 30 Jahren das Buch mit der heutigen Perspektive noch einmal zu lesen. Zum Ersten: Für eine wissenschaftliche Abhandlung ist das Werk angenehm kurz (166 Seiten) und recht verständlich geschrieben. Zum Zweiten weist das Forschungsdesign eine gewisse Eleganz auf: Es versucht, tatsächlich vorbildlich umfassend zu sein und nimmt den ganzen Kommunikationsprozess über Input, Throughput und Output ins Visier – also mit Inhaltsanalysen der Kommunikate, den Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger und dem Ergebnis der Kommunikationsbemühungen des Absenders. Viele andere Studien sind dagegen nur monomethodische Stichpunktmessungen, bei denen Ursachen und Wirkungen eher nur geraten werden können.

    Das Modell der „Verständigungsorientieren Öffentlichkeitsarbeit“ geht – verkürzt zusammengefasst – davon aus, dass durch eine ausgehandelte gemeinsame Sicht auf die Sachebene bei gegebener Glaubwürdigkeit des Absenders und der Anerkennung der Legitimität des Handlungswunsches ein Einverständnis erzielt werden kann. Das kann gelingen, wenn die Öffentlichkeitsarbeit es schafft, die Sachverhalten verständlich zu erklären, den Absender als glaubwürdig darzustellen und den nachvollziehbaren Anspruch seiner Wünsche zu vermitteln.

    Die Studie aus Niederösterreich kommt zu dem Schluss, dass sie zumindest habe aufzeigen können, was von dem idealtypischen Modell im Falle der Sondermülldeponien nicht funktioniert habe. Die Menschen wollen sich gar nicht so richtig partizipatorisch beteiligen und sie können sich eh nichts merken, was man ihnen in Flugblättern und Medienberichterstattung hat vermitteln wollen. Es bleibt eher etwas von den Infoveranstaltungen vor Ort hängen – und vor allem bei einzelnen, persönlichen Gesprächen: „Stellt man die Zusammenhänge zwischen Wissenstand und genutzten interpersonalen Kontaktmöglichkeiten einerseits sowie zwischen Wissensstand und Medienkontakten anderseits gegenüber, dann zeigt sich deutlich: der Einfluß der Massenmedien auf den Wissensstand ist weit weniger bedeutsam […].“ (S. 107) Das heißt Pressemitteilungen und bunte Broschüren helfen wenig: Man muss reden!

    Der Begriff „Mediation“ war Anfang der 1990er noch nicht ganz so populär, aber wir Studierende sahen die Öffentlichkeitsarbeit der Zukunft eher als eine Art Moderations-Tätigkeit an und fragten uns, ob uns die Lehrpläne der Universität überhaupt das richtige Handwerkszeug vermittelten. Wir betrachteten PR weniger als Auftragskommunikation, denn als „Ausgleichskommunikation“. Die Tätigkeit einer PR-Abteilung lag weniger darin, das „Sprachrohr der Geschäftsführung“ zu sein, sondern darin den Rückkanal für die Bedürfnisse der Zielgruppen zu öffnen. Die „gute Öffentlichkeitsarbeit“ würde künftig eher wie „ausgleichende Gefäße“ funktionieren anstatt wie mit einem Feuerwehrschlauch in die Menge zu schießen.

    Ich arbeite seit über 30 Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit, ausgleichende Prozesse habe ich dabei weniger moderiert. Eigentlich sendet sie weiterhin die Unternehmensbotschaften aus – vielleicht ist die Verständigungsorientierung dabei internalisiert wurden: Indem man die Bedürfnisse seiner Zielgruppen bei der Kommunikationsplanung versucht zu berücksichtigen, damit die Botschaften auch verstanden und auf fruchtbaren Boden fallen können. So gesehen war „VÖA“ auch eher nur eine Kommunikations-Utopie.

  • Lieber Käsekuchen als künstlich

    Lieber Käsekuchen als künstlich

    KI macht uns dümmer … – vielleicht wiederholt sich (Internet-) Geschichte nicht zwangsläufig, aber gewisse Parallelen mit der Frühzeit im WorldWideWeb gibt es schon: Es war immer schon immer schwierig den Menschen zu vermitteln, dass Google nicht besten Anwalt der Stadt findet, sondern nur den besten, der auch eine Website hat. Und Vergleichsportale verlinken nicht den günstigsten Stromanbieter oder die preiswerteste Versicherung, sondern nur den günstigsten Stromanbieter und die preiswerteste Versicherung, die bereit sind, Provision an den Vergleichsportalbetreiber abdrücken.

    Den besten Käsekuchen meiner Stadt gibt es in einer kleinen Bäckerei ohne Website. Wenn ich eine Suchmaschine nach den besten Käsekuchen in der der Stadt frage, lande ich nur bei McCafé oder Starbucks.

    Ähnliche Tendenzen zeichnen sich bei der intensiven Nutzung von KI-gestützten Suchen ab: Die KI hat im Internet mit hochwertigen Inhalten trainiert und gibt die Infos (meist) ohne Quellennennung weiter. Der Traffic auf den redaktionellen Seite lässt nach, so dass deren Pflege und Betrieb (um Nutzerinnen und Nutzer dort hinzuziehen und die Reichweite für Werbung zu verkaufen) kein Geschäftsmodell mehr ist. ⏩ Das passiert gerade bei verschiedenen redaktionellen Angeboten im Web.

    Also wird man die KI nicht mehr damit trainieren lassen, was bedeuten wird, dass ihre Ergebnisse auf immer dünneren und wackligeren Beinen stehen wird. Was die meisten Nutzerinnen und Nutzer nicht mitbekommen werden – oder es ihnen auch egal ist.

    Sei schlauer: Finde den besten Käsekuchen der Stadt auch ohne Internet und KI und halte es mit dem ollen Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

    Und lass „KI“ demnächst für „Käsekuchen Intelligenz“ stehen 🙂

  • Gelesen: Journalismus in Sepia?

    Gelesen: Journalismus in Sepia?

    Ich war eigentlich nie „Fan-Boy“ von irgendetwas oder irgendwem. Aber ich muss zugeben, dass ich die Reportagen von Alexander Osang in der Berliner Zeitung immer äußerst lesenswert fand. Sie waren auch ein Grund dafür, warum ich während meines Publizistik-Studiums in Berlin die „Berliner Zeitung“ abonniert hatte, anstatt den „Tagesspiegel“, den Publizistik- und Politik-Studierende eigentlich eher lasen.

    Tatsächlich kaufte ich mir auch einen der ersten Sammelbände mit den „Nachwende“-Reportagen aus der Berliner Zeitung. „Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen“ (erschienen 1992 im Verlag Volk & Welt) war tatsächlich bereits das zweite Buch – bis heute im Jahr 2024 sind 19 weitere erschienen. Das jüngste Buch erschien 2022, heißt „Das letzte Einhorn“ und versammelt 19 ausgewählte Spiegel-Reportagen aus zwölf Jahren.

    Wenn man diese Reportagen geballt an einem Stück liest, ist das ein wenig so, wie ein Movie-Marathon mit Till-Schweiger-Filmen aus den 2000er Jahren: Bei Schweiger ist alles sepia-farbend, bei Osang alles latent deprimierend. Die Hauptfiguren in den Reportagen wirken immer irgendwie verloren, deplatziert, orientierungslos. Ihre Jackets sind eine Nummer zu groß, sie wissen nicht, wohin mit den Händen, gehen durch die falsche Tür ab. Man hat das Gefühl, der Lack sei ab und der Kaiser eigentlich nackt.

    Wenn man von einem Menschen alles abklopft, was das Leben auf ihn drauf geworfen hat, sind wir alle nackt und klein, Maden, die sich winden, weil sie ungeschützt sind. Vielleicht lernt man das so in der Journalistenschule oder das ist sein Ding: Geh der Sache auf den Grund, zerlege alles in seine atomaren Bestandteile und stell dann fest, dass alle Bausteine eigentlich gleich aussehen.

    Es sind größtenteils Geschichten von Menschen mit ostdeutschen Biographien oder Geschichten von Menschen, die mit ostdeutschen Biographien konfrontiert werden. Da war es wieder: Das Stichwort „Ostbewusstsein“, mit dem ich mich ⏩ hier jüngst auch schon auseinander gesetzt habe. Als ich vor über 30 Jahren den ersten Sammelband mit Begeisterung gelesen habe, habe ich diese gedankliche Brücke noch nicht schlagen können. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass unter anderem genau auch diese Art der Reportagen Gehwegplatten auf dem Weg der Wahrnehmung waren, der zu diesem kollektiven Lebensgefühl geführt hat.

    Reportagen und Reportagen-Klassiker

    Auf jeden Fall hat mich die Lektüre des Sammelbandes „Das letzte Einhorn“ zurück zu meinem Bücherregal geführt, dem ich eine alte DDR-Ausgabe des „Rasenden Reporters“ von Egon-Erwin Kisch in der Bearbeitung von Bodo Uhse von 1950 entnahm, um diese endlich mal ganz durchzulesen. Alexander Osang ist regelmäßig für den renommierten Journalismus-Preis nominiert, der nach dem stilprägenden Reportage-Journalisten der 1920er und 1930er benannt wurde. Erhalten hat Osang den gleichnamigen Preis 1993, 1999 und 2001 „und wurde so regelmäßig für diesen nominiert, dass Journalistenkollegen schon vom ‚Osang-Preis‘ spotteten“, wie bei ⏩ Wikipedia nachgelesen werden kann. Ich lese jetzt erstmal das Original.

  • history repeating: Büro-Automation und KI

    history repeating: Büro-Automation und KI

    Geschichte und Geschichten wiederholen sich – heißt es. Das gilt scheinbar auch für Diskussionen über Veränderungsprozesse. Ich weiß leider nicht mehr ganz genau, wie ich auf das kleine Büchlein „Die Programmierer – Eliten der Automation“ von Karl Bednarik von 1965 (in der Fischer Taschenbuch-Ausgabe von 1967) gestoßen bin. „Karl Josef Franz Bednarik war ein Wiener Maler und Schriftsteller mit sozialkritischem Engagement“, kann uns ⏩ Wikipedia berichten. Er lebte von 1915 bis 2001, war gelernter Buchdrucker und Elektroschweißer, der sich autodidaktisch zum Künstler weiterbildete. Nebenbei verfasste er gesellschaftskritische Schriften wie unter anderem einen utopischen Roman mit dem viel versprechenden Titel „Omega Fleischwolf“, den ich sicher auch noch mal lesen werde, wenn ich ihn in die Finger bekommen sollte.

    Abgesehen davon, dass ich es unterhaltsam finde, ältere Bücher zu lesen, in denen Prognosen über (teilweise inzwischen bereits vergangene) Zukünfte erstellt werden, stieß ich bei Bednariks Programmierer-Buch, auf eine Diskussion, die wir heute führen und deren Argumenten wir teilweise direkt übernehmen könnte, wenn wir das Wort „Computer“ durch die Worte „künstliche Intelligenz“ ersetzen. Der Autor beobachtet, beschreibt und bewertet den Wandel der Verwaltungsberufe durch die Einführung elektronischer Datenverarbeitung vor gut 50 Jahren: „Nachdem die Maschine dem Menschen sehr viel Handarbeit abgenommen hat, ist sie nun auch dabei, ihm die Kopfarbeit zu enteignen, zumindest große Teile dessen, was bisher als Kopf- und Geistesarbeit angesehen wurde.“ (S. 9)

    Parallelen zur Diskussion um KI liegen auf der Hand

    Bednarik sieht nicht in erster Linie die Technik als Bedrohung der Bürovorsteher (mit Verweis auf Zemanek nennt er Großrechner ‚gigantische Vollidioten‘, die nur mit den Fingern rechnen könnten, davon aber Millionen hätten – vgl. S. 68), sondern deren Bediener: „Das sind die Programmierer, jene Spezialisten, die Arbeitsabläufe vordenken und festlegen, die mit Hilfe technischer Anlagen Planung, Ablauf und Vertrieb ganzer Industrieproduktionen bestimmen.“ (o. S. – Klappentext vor dem Schmutztitel). Ohne technische oder kaufmännische Kenntnisse analysieren und zerlegen sie alle Arbeitsabläufe und legen sie als Programmabfolge für die Datenverarbeitung fest. Damit steuern sie de facto den ganzen Betrieb ohne zum Management zu gehören, orientieren sich dabei an einer Idealform und entwerfen so „eine neue Organisationsform als abstraktes Modell“ (S. 73).

    Die Grenzen der Automatisierung liegen darin, dass sich die Computer nicht selber erzeugen oder programmieren können und dass maschinelle Entscheidungen durch die Programmierung vorbestimmt seien (vgl. S. 20). Das kommt uns bei KI anders vor, obwohl auch hier im Kern nur Nullen und Einsen Abläufe bestimmen, aber die ‚gigantischen Vollidioten‘ inzwischen Milliarden Finger haben und die Programme eine Komplexität erreicht haben, die die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigt. Letztendlich laufen auch hier nur Routinen nach vorgegebenen Schemata ab – auch oder gerade in der Logik der Kombinatorik mit anderen Datenbeständen. So programmiert sich eine KI selber nach vorgegebenen Programmabläufen.

    Während Bednarik seine Erkenntnisse auf der Grundlage von Beobachtungen auf Basis der Einführung erster Großrechner mit Lochstreifen und Magnetbändern gewinnt, wissen wir nun – 50 Jahre später – wie Computer in alle Bereiche unseres Lebens vorgedrungen sind. In weiteren 50 Jahren werden wir auch wissen, in weit weit künstliche Intelligenz Alltag und Beruf verändert haben wird. Eine Prognose von damals wird dabei auch in der aktuellen Diskussion häufig gehört: „Wenn eine Verringerung des Büropersonals erfolgt, dann nur bei eintönigen und langweiligen Routinearbeiten.“ (S. 123 – rezit. Levin) Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder?

  • Ost und West: Wir müssen reden!

    Ost und West: Wir müssen reden!

    Ich habe lange gezögert, ob ich überhaupt etwas zu diesem Thema schreiben sollte. Wenn jemand aus der alten Bundesrepublik etwas über die Einstellung der Menschen, die in dem Teil Deutschlands leben, der die ehemalige DDR war, ist das ein bisschen so, als würde ein Mann etwas zum Thema Menstruation beitragen wollen: Wer ist nicht selber erlebt hat, der möge gefälligst die Klappe halten!

    Aber es nützt nichts: Wir müssen reden und wir müssen zuhören. Und wir müssen verstehen, warum es dem anderen vielleicht schwerfällt, die Dinge, über die wir reden, zu verstehen. Dann müssen wir noch mehr reden und noch mehr zuhören. Das hilft grundsätzlich bei jeder Form von Beziehung: Bei einem Paar, dass nach vielen Jahren Ehe das Gefühl hat, nur noch nebeneinanderher zu leben, aber auch bei Menschen, die von der westdeutschen Geschichte oder der ostdeutschen Geschichte geprägt wurden. Es ist nicht einmal notwendig, in der ehemaligen DDR geboren zu sein, auch Generationen von sogenannten „Nachwendekindern“ empfinden sich weiterhin beziehungsweise nun erst recht als „Ossis“. Und es waren die „Wessis“, die den Ostdeutschen zum „Ossi“ gemacht haben. Wenn ich es richtig gelesen habe, dann ist die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung auch eine Geschichte der Missverständnisse sowie der Stigmatisierungen.

    Die Mauer ist weg, aber eine deutsche Einheit, die diesen Namen verdient hätte, hat es nie gegeben. Rechts und links des ehemaligen eisernen Vorhangs bleibt man zu verschieden. Und weil das lange Zeit nicht so gesehen wurde, nun erst recht!

    „Die ostdeutsche Identität der Nachwendekinder sind insgesamt eine Reaktion auf drei Dinge“, schreibt ⏩ Valerie Schönian in ihren Buch ⏩ „Ostbewsusstsein“ auf Seite 94 und zitiert dann den Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak: „Die Sozialisationserfahrung mit ostdeutschen Eltern, der pauschalisierende Schulunterricht und das Gefühl der Fremdzuschreibung als Ostdeutsche.“ Man wird nicht als „Ossi“ geboren, sondern zum „Ossi“ gemacht: Durch die Eltern, die ostdeutsche Sozialisation und die Medien.

    Das ist alles an sich logisch und nachvollziehbar: Wenn sich ein politisches Gesellschaftssystem auflöst, bleiben die Menschen, die darin aufgewachsen geprägt von den Werten, die das bisherige System vermittelt hat. Davon werden sie einiges – vermutlich größtenteils unbewusst und als Sub- oder Kontext – auch an nachfolgende Generationen weitergeben. Das gelte auch für jegliche Traumata: „Unsere Untersuchungen und die anderer haben ergeben, dass durch die Fähigkeit des Menschen zur Resonanz traumatische und andere belastende Erfahrungen von Eltern an die nächste und übernächste Generation weitergegeben werden können.“ Das schreibt ⏩ Udo Baer in seinem Buch ⏩ „DDR-Erbe in der Seele“ auf Seite 178. Diese Weitergabe erfolgt nicht verbal, sondern auf der emotionalen Ebene. Natürlich muss man hier vorsichtig sein, denn Baer ist als Kind mit seinen Eltern aus der DDR geflohen und gilt eigentlich so als „Westdeutscher“. Die nonverbale Weitergabe von Traumata gab es natürlich auch schon vor der DDR: Wer im Dritten Reich sozialisiert wurde, konnte nach dem Krieg nicht aus seiner Haut – aber solche Zusammenhänge wurden eher totgeschwiegen, denn die junge Republik hatte andere Sorgen.

    Das Schweigen der Eltern- und Großelterngeneration ist grundsätzlich problematisch, denn es verhindert an ihren Erfahrungen lernen und durch Verständnis die eigene Situation reflektieren zu können. Insoweit ist es zu begrüßen, dass eine jüngerer Generation in Ostdeutschland Geborener diesen Dialog sucht und einfordert – so wie es ⏩ Johannes Nichelmann tut und seine eigenen Erfahrungen eindrucksvoll und ausführlich in seinem Buch ⏩ „Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ festhält.

    Ganz mein Reden: Wir müssen reden!

    Was bei Schönian (vgl. u.a. S. 91) und Nichelmann (vgl. u.a. S. 56ff) grundsätzlich mitschwingt: Erst die Konfrontation mit Westdeutschen habe aus den Ostdeutschen „Ossis“ gemacht. Ursprünglich hätten sich viele nur als „Deutsche“ gesehen, aber das westdeutsche Empfinden der Osten sei etwas Fremdartiges, habe eigentlich erst zur Ausprägung einer Ostidentität geführt. Ob Reisewarnungen in den Westen geholfen hätten? Man weiß es nicht. Aber wenn man das so liest, könnte man meinen, dass die Ostdeutschen die Opfer sind. Bewerten möchte ich das an dieser Stelle nicht (auch an keiner anderen).

    Diese Abgrenzung zeige sich auch in der Wahrnehmung, dass ein Problem in Ostdeutschland ein ostdeutsche Problem sei, wohin gegen ein Problem in Westdeutschland ein gesamtdeutsches sei: „Eine Reaktion auf dieses Phänomen ist eine Identitätsbildung der separierten Gruppe.“ (Nichelmann, S. 59) Die Ausgrenzung der einen stiftet die Identität der anderen.

    „Ostdeutschland muss als Sozialisationsraum etabliert werden“, fordert eine Gesprächspartnerinnen von Valerie Schönian (S. 59) und die Autorin ergänzt später, dass vorherige Generationen „ihr Ostdeutsch-Sein am liebsten ablegen. Ich will es mir erobern.“ (S. 74) Das mag auch einfacher möglicher sein: „Wo noch nicht alles da ist, kann mehr Neues entstehen. Wo Platz ist, lässt sich besser atmen.“ (S. 84) Das ist natürlich alles legitim und machbar. Deutschland ist ein bunter Flickenteppich regionaler Identitäten und jeder findet noch jemanden, von dem er sich abgrenzen kann: Die Kölner von den Düsseldorfern, die Duderstädter von den Eichsfeldern, die Franken von den Bayern.

    Ich habe nichts dagegen, dass jemand seine „Ost-Identität“ auslebt, so wie manche Bayern, die gerne ihre „Mia san mia“-Mentalität in Lederhosen und Seppelhut ausleben – finde ich zwar lächerlich (also Lederhosen und Seppelhut), aber ich bin auch tolerant, so lange jeder seinen eigenen Stiefel durchzieht und niemanden dafür schlecht macht (so wie ich gerade ein bisschen). Interessant ist, dass es aber im Gebiet der ehemaligen DDR weniger um Spreewald versus Erzgebirge geht, sondern um ostdeutsch gegen westdeutsch.

    Dahinter steckt das Meme vom Migrant im eigenen Land

    Es taucht immer wieder das Motiv auf, dass den Ostdeutschen durch die Auflösung der DDR der Zugang zu ihrer Vergangenheit fehle: „Ich fühle mich wie ein Einwandererkind, wie der Sohn von jemanden der aus der Türkei hergekommen ist. Der kann, wenn er will, sich das Land seines Vaters anschauen. Ich kann es nicht.“ So zitiert Nichelmann eines der Nachwendekinder, mit denen er spricht (S. 87). Auch Maximilian geht es so: Er „fühlt sich wie das Kind von Einwanderern, das die Heimat seiner Eltern nicht mehr besuchen kann, denn sie ist schlichtweg nicht mehr existent“. (S. 126)

    Es mag fadenscheinig klingen, aber den wenigsten von uns sind Zeitreisen möglich.

    Ich weiß, dass ich gleich ausgebuht werden, aber mit der DDR ist eigentlich auch die alte BRD verschwunden. Das mag sich vielleicht für viele nicht so angefühlt haben, aber auch das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, ist verschwunden. Ich bin im Zonenrandgebiet aufgewachsen, was es in dieser Form nur geben konnte, weil es die DDR gab – inklusive „kleinem Grenzverkehr“ und „Zonenrandförderung“. Mit dem Untergang der DDR veränderte auch die Kleinstadt im ehemaligen Zonenrandgebiet ihr Gesicht: Mit der wegfallenden Förderung zogen auch etliche Industriebetriebe weg und die Bundeswehr-Einheiten wurden weiter östlich verlegt. Damit gingen Arbeitsplätze und somit auch Einwohner verloren – zwischenzeitlich fast 30 Prozent. Inzwischen positioniert sich das Städtchen als Seniorenparadies.

    Meine Kinder können es nicht mehr sehen, wie es vorher war – dieses Fehl wird bei ihnen nun folgerichtig zur Ausbildung einer starken Südniedersachsen-Identität führen. Oder vielleicht auch nicht. Ist vielleicht auch besser so. Mein Vater ist 1956 aus Ungarn geflohen: Das Land gibt es noch und ich kann da noch hinfahren. Aber auch das heutige Ungarn hat so gut wie gar nichts mehr mit dem Ungarn zu tun, aus dem mein Vater geflohen ist. Genauso wenig, wie die heutige Türkei, dem Land ähnelt, aus dem die „Gastarbeiter“ in den 1970er Jahren nach Deutschland kamen. Ich glaube, da machen sich einige nur etwas vor und romantisieren etwas, das so verloren ist wie der heilige Gral.

    Aber: Als Westdeutscher kann ich diesen Verlust natürlich nicht bewerten. Das steht mir nicht zu, denn im Westen hatten wir auch immer die bessere ökonomische Ausgangsposition, da – wie Valerie Schönian auf S. 86 schreibt – „wir ostdeutschen Nachwendekinder weniger Zahnarztpraxen erben werden als manch westdeutsche Altersgenossen“. Das stimmt: Ich habe sieben Zahnarztpraxen geerbt – und ihr so? Mal ganz ehrlich: Ich kenne nicht mal jemanden, der eine Zahnarztpraxis geerbt habt. Das macht mich nicht direkt zum „Ossi“, sondern wohl leider nur zu einem schlechten „Wessi“.

  • Geht immer: ein Bayer

    Geht immer: ein Bayer

    In Bezug auf Romane kann man mit Thommie Bayer nicht viel falsch machen. Ich habe vor etlichen Jahren so einiges bis damals fast alles von ihm gelesen, dann länger Pause gemacht und nun über den jüngsten Jahreswechsel „Vier Arten, die Liebe zu vergessen“ weggelesen. Ich habe mich vom Titel locken lassen und fand auch, dass der Klappentext eine interessante Geschichte versprach: „Emmis Tod bringt vier alte Schulfreunde wieder zusammen. Beinah zwei Jahrzehnte haben sie sich nicht gesehen, viel ist inzwischen geschehen. Und so verabreden sie sich noch Grab für ein Wochenende in Venedig: Die vier wollen endlich herausfinden, was ihre Freundschaft ihnen wert ist – uns was genau sie all die Jahre nicht losgelassen hat.“

    Aber ich hatte etwas ganz anderes erwartet: Irgendwie dachte ich, Emmi sei die Geliebte von allen vieren gewesen und jeder konnte auf seine Weise nicht loslassen. Erst im zeitlosen Sehnsuchtsort Venedig, der eine symbolgeschwängerte Projektionsfläche bietet, gelingt es ihnen, ihr kollektives Liebestrauma gemeinsam zu überwinden.

    Ganz so, war es dann doch nicht: Emmi war die Musiklehrerin, die aus vier verkrachten Internatsschülern eine Art ‚Barbershop Quartett‘ geformt hat. Sie hatten vermutlich später alle noch Sex mit der selben Frau (nicht die Musiklehrerin) – aber das ist nur eine Nebenlinie der Geschichte. Venedig und die detaillierte Beschreibung seiner Kunstschätze und Lebensart wird schon metaphorisch aufgeladen sein, aber in der Erzählung ist der Grund des dortigen Zusammentreffens eher pragmatisch angelegt, denn der es ist der Wohnort der Hauptfigur, die seine drei ehemaligen Sangesbrüder zu sich nachhause einlädt. Und überhaupt war ich ein bisschen verwundert, dass das Wiedersehen, das laut Klappentext das zentrale Erzählungselement zu sein schien, erst auf Seite 140 beginnt – also ziemlich genau in der Mitte des Buches.

    Das klingt jetzt alles ein bisschen so, als hätte mir das Buch nicht gefallen, aber ich fand es nicht schlecht – es war halt nur eine ganz andere Geschichte als vermutet. Und das ist ja auch nicht verkehrt, dass Literatur uns noch überraschen kann.

    Also bleibt es dabei: Thommie Bayer ist immer eine gute Wahl. Über den Anspruch mögen sich andere streiten, aber ich halte gute Unterhaltung auch für eine solide Leistung von Literatur. Eigentlich ein klassischer „Männerroman“ – ein Genre, das noch mit dem passenden Etikett hadert: „Lad Lit“ ist eher Nick Horby und „Fratire“ ist politisch nicht korrekt. Da ist es bei Bayer doch noch alles recht gesittet bis gesetzt. Obwohl die vier Freunde in dem Buch eigentlich gut zehn Jahre jünger sein müssten als ich, fehlte mir der Identifikationscharakter, den man ja gerne beim Lesen wiederfindet – oder ich bin dann als Zielgruppe doch zu alt.

  • Moralisch korrekt und außerhalb des Gesetzes

    Moralisch korrekt und außerhalb des Gesetzes

    Ich lese wieder sehr viel in letzter Zeit – vieles ist unterhaltsam, anderes sehr lehrreich, aber so richtig beeindruckt hat mich ein Buch schon länger nicht mehr, so dass ich hätte darüber schreiben wollen. Aber diese Geschichte zeigte Wirkung: Es ist das von seiner Tochter aufgezeichnete Leben eines Mannes, der stets seinem moralischen Kompass folgte und damit dem Großteil seines Lebens in der Illegalität verbrachte. Es geht um „Adolfo Kaminsky – Ein Fälscherleben“.

    Wie ich auf das Buch kam – weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls war ich neugierig und habe es mir (wie so viele Dinge) gebraucht bestellt – wobei das Porto dabei ja in der Regel der teuerste Bestandteil ist. Vermutlich interessierte mich ein außergewöhnliche Leben, das meistens unter außergewöhnlichen Rahmenbedingungen entsteht. Der Mitte der 1920er Jahre in Buenos Aires geborene Kaminsky stammt aus einer russisch-jüdischer Familie, die 1910 nach Frankreich auswanderte, aber 1917 nach Argentinien weiterzog. 1932 gingen sie nach Frankreich zurück in ein Europa, das schon bald von Nazi-Deutschland verheerend verwüstet werden sollte.

    Mit der Eroberung Frankreichs beginnen auch dort die Juden-Verfolgungen und -Deportationen. In diese dunkele Zeit fällt auch die für mich eindringlichste Szene der Lebenserzählung: In der Lagerhaft in Drancy wird seine Familie vor die Wahl gestellt, Adolfos Schulfreundin Dora in den Tod zu folgen. Ihre Mutter war bereits tot, ihr Vater starb in der gemeinsamen Haft und Adolfos Familie hatte Dora zugesichert, sie wie ihr eigenes Kind anzunehmen und betreuen: „Aber leider zählte diese Adoption nur für uns. Kaum angekommen, wurde sie ins untere Stockwerk zu denen gesteckt, die abtransportiert werden konnten. Mein Vater tat alles, um sie als seine Tochter anerkennen zu lassen, er erreichte sogar eine Unterredung mit dem Lagerführer Alois Brunner. […] Bei seiner Antwort gab mein Vater auf: ‚Wenn Sie sich nicht von ihr trennen können, wie Sie sagen, kann ich der ganzen Familie einen Platz im nächsten Zug verschaffen.’“ (S. 51) Dora wird ein paar Tage später in ein Todeslager deportiert. „Als sie an der Reihe war konnten wir nichts tun, und die Zeit hat das ungeheure Schuldgefühl nicht auslöschen können, das mich bis heute quält.“ (ebd.)

    Am Ende des Buches ist nicht ganz klar, wie vielen Tausenden Menschen Kaminsky mit seinen gefälschten Papieren das Leben gerettet hat – aber dies scheint nicht den als solchen empfundenen Verrat an seiner Schulfreundin aufzuwiegen. Die Perversität, mit der diese Entscheidung erzwungen wurde, verursacht schon beim Lesen Schmerzen. Manch Entscheidung mag uns schwierig entscheiden, aber alles tritt dahinter zurück, jemanden opfern zu müssen, um sich und dem Rest der Familie das Überleben zu sichern.

    Kaminskys Familie wird nicht direkt deportiert, weil sie argentinische Dokumente haben. Der Wendepunkt ist deutlich. Der neugierige Junge ohne richtige Ausbildung geht in den Untergrund und wird einer der größten Fälscher der Neuzeit: Erst in der Resistance (die keine geschlossene Widerstandsbewegung war, sondern ein zerstückelter Haufen vieler Organisationen mit vielen Abkürzungen, die sich oft überhaupt nicht einig waren), dann für die Einwanderung heimatloser Juden nach Palästina und alle Zeit für die Unabhängigkeitskämpfer in Algerien. Dazwischen immer wieder für unterdrückte Gruppen, die staatlichen Repressalien in Europa oder dem Rest der Welt ausgesetzt waren.

    Meistens hat er unentgeltlich gearbeitet und von keinem der Netzwerke vereinnahmt werden zu können und erpressbar zu sein. Sein offizielles Leben als Fotograf, Ehemann und Vater kam dabei zu kurz. Adolfo Kaminsky muss geradezu zwanghaft helfen. Er glaubte stets moralisch das Richtige zu tun und stand dennoch immer außerhalb des Gesetzes. Ein Buch das bedrückt, aber auch irgendwie Hoffnung macht.

  • Multimediales Buch: Da ist Musike drin

    Multimediales Buch: Da ist Musike drin

    [Werbung ohne Auftrag – ich hätte es ansonsten auch „Buchbesprechung“ nennen können]

    Ende 2019 erschien das Buch ⏩ „Ein Jahr voller Wunder“ von Clemency Burton-Hill, das bereits zwei Jahre zuvor auf Englisch erschienen war. Die Musikredakteurin einer BBC-Sendereihe und eines New Yorkers Klassik-Radiosenders empfiehlt darin für jeden Tag ein ausgewähltes Stück klassischer Musik – meistens mit Bezug zum aktuellen Datum. Dazu gibt es jeweils ein paar Fakten, Hintergründe oder Anekdoten auf einer Seite. Für Menschen, die sich grundsätzlich für Klassik interessieren und auch Spaß daran haben, neue Stück zu entdecken eine große Freude, die darauf angelegt ist, Teil der täglichen Routine zu werden: Zum Feierabend abschalten, entspannen und sich musikalisch entführen lassen.

    Da die Musik nicht aus den gedruckten Seiten ertönen kann, hat der Diogenes Verlag eine ⏩ Webseite angelegt, die in Monatsabschnitten in der geordneter Reihenfolge die Stücke auflistet. So weit – so gut. Eigentlich ein feine Sache das, wenn man ein iTune-Konto bei Apple sein eigen nett – ansonsten ist bei jedem Stück nach 30-sekündiger Hörprobe Schluss.

    Das Buchkonzept wäre nur dann rund, wenn man mit der Druckausgabe auch ein iPhone bekäme. In der Android-Welt bzw. ohne iTune-Konto sieht das Jahr voller Wunder nicht ganz so wundervoll aus.

    Ein gewisser ‚john penberthy‘ hat sich die Mühe gemacht, eine vollständige Playlist auf ⏩ Youtube in der korrekten Reihenfolge zusammenzustellen. An sich eine tolle Arbeit, sofern man sich merken kann, dass der 25. März die Nummer 85 und der 19. Oktober die Nummer 291 hat.

    Es gibt auch Nutzer, die angefangen haben, bei Youtube Playlists nach Monaten anzulegen, wie ⏩ Georg Johann Ruf zum Beispiel. Sicher die sinnvollere Lösung.

    Aber wäre es nicht am einfachsten, die Links auf einer einfachen Webseite nach Datum aufzulisten? Könnte man ja eigentlich schnell mal machen – also was nichts anderes heißt als „kann ich ja dann wohl schnell mal selber machen“… – aber da ich mir den täglichen Spaß nicht nehme lassen will, ergänze ich die ⏩ Seite immer nur dann, wenn ich Stücke auch gehört habe. Wer mithören will, kann gerne reinklicken – wer die Einleitungstexte dazu mitlesen will, der möge sich das Buch kaufen.

    Zum „Musikalischen Kalender“