Autor: Stefan Balázs

  • Begegnungen mit Beuys – Teil 2

    Begegnungen mit Beuys – Teil 2


    Jetzt muss ich mich aber sputen, um noch vor Ablauf des „Beuys-Jahres 2021“ den zweiten Teil meiner Begegnungen mit Beuys zu liefern. Ging es im ⏩ ersten Teil eher um reale Begegnungen – mit dem Meister selbst 1992 auf der „documenta 7“ oder mit Tomasz Piwarski und Jenny Trautwein, die Sprößlinge aus den 7000 Beuys Eichen als ⏩ „Beuys Babys“ herangezogen haben – so geht es im zweiten Teil eher um einen neuen Blick eines Kunstlaien auf das Werk des Ausnahmekünstlers.

    Was würde sich für einen solchen zweiten Blick besser anbieten als Ausstellung, die anlässlich des Jubiläums zusammengestellt wurde? Die ⏩ Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen bot in der ersten Jahreshälfte im Düsseldorfer K20 ⏩ „Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys“ an. In der Einleitung des korrespondierenden ⏩ Webseite heißt es dazu: „Sein 100. Geburtstag im Jahr 2021 bietet Anlass sein komplexes Wirken und seine internationale Ausstrahlung neu zu entdecken und kritisch zu befragen.“

    Also: Auf geht’s zum Neuentdecken und Hinterfragen! Mein erster Eindruck: Ich kam mir verdammt alt vor! Alles, was ich in meiner Jugend rund um Kunst als hipp und revolutionär abgespeichert hatte, wirkte piefig, oll und hatte Staub angesetzt. Videokunst, die auf VHS Kassetten aufgenommen wurde, leidet mit der Zeit. Unsere HD und Ultra-HD gewohnten Augen, wundern sich über über Graustufen, zuckelnde Bildraten und Streifen bei der geringen Auflösung. Allein die Technik lässt Vieles heute amateurhaft wirken was einst die Avantgarde war.

    Szenen einer Ausstellung – im Sommer 2021 im K20 in Düsseldorf

    Erschwerend kommt hinzu, dass Aktionskunst in erster Linie Kunst während der Aktion ist – also an einem Punkt der Zeitleiste, der schon lange zurückliegt. Dokumentarische Aufnahmen von Aktionskunst haben etwas von einer Fotokopie der Mona Lisa. Und sie sind mitunter lang: Wenn Joseph Beuys irgendwo vier Stunden auf einem Bein stand, wer von uns setzt sich heute vier Stunden vor einen Monitor und schaut sich die Performance in 600 x 400 Bildpunkten an? So war ich schneller mit der Ausstellung fertig als erwartet.

    Das ist keine Kritik an den Ausstellungsmachern. Eigentlich hatten sie die tolle Idee, den Arbeiten von damals aktuellere Beiträge zuzuordnen, die ähnliche Aspekte aufgreifen, weiterführen oder in ein neues Licht stellen. Das meiste davon waren dann noch mehr Videos.

    Weil ich nun Zeit gewonnen hatte, ging ich gleich auch noch in die zweite Ausstellung im Haus: ⏩ „Christoph Schlingensief. Kaprow City„. Wieder wurden Erinnerungen wach: Studentenzeit in Berlin mit einer gewissen Begeisterung für die gezielt gesetzten Provokationen, die von der Volksbühne kamen. Der Raum war dunkel und muffig. Darin ein „begehbares Bühnenbild“, dass aus Holzresten und Sperrmüll 2006 für die Volksbühne zusammengetackert wurde und danach in ein Schweizer Museum wanderte. Provokantes empfand ich nicht beim Betrachten. Für mich war das Angebot aus der Zeit gefallen. Ich fand davon nichts cool, sondern nur schmuddelig und ranzig. Nun, ich bin ja auch kein Kunstexperte.

    Meine persönlichen Bewertungen aus heutiger Sicht schmälern nicht die Leistungen der künstlerischen Arbeiten: Ich glaube, dass die Impulse, die Beuys auf jeden Fall (und Schlingensief vielleicht) gesetzt haben, für die Entwicklung der Kunst in der damaligen Zeit revolutionär waren und auf jeden Fall unsere Anerkennung verdienen. Unsicher bin ich mir jedoch bei der Frage, wie man diese Leistungen konserviert, wie man vergangene Zeitgeschichte einfängt und wieder zugänglich macht. Vielleicht sollten Erinnerungen der gute Nährboden sein, auf dem Neues wachsen kann.

    Womit wir wieder bei Tomasz‘ und Jennys kleinen Eichen wären. Ich hatte 2021 noch eine weitere virtuelle Begegnung mit ihrer Idee – und diese ereignete sich bei der Lektüre eines Buches, das bereits lange ungelesen in meinem Regal stand und versprach so gar nicht nichts mit dem Thema zu tun zu haben: ⏩ „Japanische Bergleute im Ruhrgebiet„. Aber ich staunte nicht schlecht, als ich auf Seite 234 auf die Geschichte von ⏩ Naoto Tajimas Eiche gestoßen bin. Der Goldmedaillengewinner im Dreisprung bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin war zeitweise der Verbindungsmann des deutsch-japanischen Bergbau-Programms. Die Gewinner erhielten neben den Medaillen und dem Lorbeerkranz noch einen Eichensetzling. Tajima pflanzte seinen am Rande des Leichtathletikfeldes der Landwirtschaftsfakultät der Kaiserlichen Universität Kyoto. Symbolisch genug starb der Baum nach dem Tod des Sportlers und seiner Frau ab. Es wurden Setzlinge aus den Zweigen gewonnen, von denen einer Kobe und ein anderer in Iwakuni weiterwächst.

    Auszug zu Naoto Tajimas Eichen-Bäumchen aus Atsushi Kataoka, Regine Mathias, Pia Tomoko Meid, Werner Pascha, Shingo Shimada (Hrsg.): „Glückauf“ auf Japanisch. Bergleute aus Japan im Ruhrgebiet (S. 234/235)

    Wer sich daran stört, dass diese an sich schöne Geschichte ihren Ursprung in den Olympischen Spielen der Nationalsozialisten hat, kann eine vergleichbare Spur bei den ⏩ „Lutherbäumen“ finden: „Insbesondere an runden Jubiläen von Ereignissen aus Luthers Leben oder der Reformationsgeschichte wurden vielerorts Lutherbäume gepflanzt.“ Etliche davon waren Setzlinge anderer Lutherbäume andererorts. So wie auch die riesige Lutherbuche vor dem Lübecker Dom, die 1873 als ein Ableger der Lutherbuche aus Bad Liebenstein in Thüringen zur 700 Jahrfeier des Domes in die Hansestadt kam, die wir ebenfalls im Sommer 2021 besuchten.

    Luther-Buche vor dem Dom in Lübeck

    Aber zurück zu Beuys: Im Herbst diesen Jahres bin ich doch noch mal auf die Suche nach dem Künstler gegangen. Und zwar in seine Geburtsstadt Krefeld – „umme Ecke“ von hier. Obwohl Beuys selber Kleve als seinen künstlerischen Geburtsort gewählt hat. Es passt zum Künstler, dass seine Geburt am 12. Mai 1921 eine Art Mysterium ist: In der offiziellen (Krefelder) Geburtsurkunde wird der „Dampfmühlenweg“ ohne Hausnummer angegeben – ⏩ man mutmaßt, dass er auf dem Gehweg, in einem Hauseingang oder einer Droschke geboren wurde. Seine Mutter soll behauptet haben ihren später berühmten Sohn beim Umzug von Kleve nach Krefeld im Straßengraben entbunden zu haben. Die damalige Meldeadresse: Alexanderplatz 5 in Krefeld. Dort hat der Joseph Beuys seine ersten drei Lebensmonate verbracht – und dort hängt auch eine Gedenktafel, die genau das besagt.

    Gedenktafel für Joseph Beuys in Krefeld

    Dies Verwirrspiel um seine Geburt macht mir Beuys als Freak irgendwie wieder sympathisch. Er bricht auch hier die klassischen Erwartungsmuster und schreibt Regeln neu, in dem er sich seinen Geburtsort selber wählt. So wie er 1980 in der TV-Sendung „Lebensläufe“ gesagt haben soll: „Also habe ich das Leben zum Kunstwerk erklärt.“ Das, finde ich, kann man so stehen lassen.

  • Was stimmt mit euch Nordrhein-Westfalen nicht?

    Was stimmt mit euch Nordrhein-Westfalen nicht?

    OK, ich habe nichts zu sagen, weil ich Niedersachse bin. Ich bin in Goslar im Harz geboren, in Hannoversch-Münden aufgewachsen, habe meinen Wehrdienst in Buxtehude abgeleistet und meine ersten journalistischen Gehversuche bei der Gifhorner Aller-Zeitung gemacht. Alles war Niedersachsen – was keine besondere Leistung ist, denn Niedersachsen ist ein Flächenstaat und Gifhorn der größte Landkreis Deutschlands. Obwohl Hann. Münden wie ein Tropfen am südlichsten Zipfel Niedersachsens – de facto komplett von Hessen umgeben – hängt, wurde ich auf keiner meiner Stationen danach gefragt, wie weit mein niedersächsischer Status reicht: Wir alle waren sturmfest und erdverwachsen und von „Heil Dir, Windukinds-Stamm“ – da wurde nicht nachgefragt.

    Ganz anders hier in Nordrhein-Westfalen! Es fängt schon damit an, dass in Bochum kein Karneval gefeiert wird und die Geschäfte am Rosenmontag geöffnet haben – einmal kurz über Wattenscheid nach Essen gerutscht, ist man im Rheinland und feiert schunkelnd Fasching inklusive Umzug am Rosenmontag. Ganz zu schweigen von Düsseldorf und Köln: Wenn es Ying und Yang nicht gebe, dann hießen die Gegensätze wie die Millionen-Metropole und die Landeshauptstadt oder Hosen gegen Höhner. Und dann noch die Diskussion über rechts- und linksrheinisch …

    Zugegeben: Es gibt einen gewissen kulturellen Clash zwischen OWL und der Eifel, aber es gibt auch in Niedersachsen Unterschiede zwischen Ostfriesland und Löchow-Dannennberg – und es kümmert uns nicht. So: „Come over it, Northrhine-Westfalia!“ Wir reden über ein Europa der Regionen, vielleicht noch über ein Deutschland als Land der Ideen, aber ein Bundesland als Flickenteppich braucht kein Mensch!

    Ich arbeite in einer Landesbehörde mit sechs Niederlassungen in allen Ecken und Enden NRWs – schwierig genug dabei eine Linie zu finden. Aber: He, sollten wir nicht alles auf eine gemeinsame Karte setzen? Wenn nicht wir, wer dann? Ich bin Düsseldorf und reiche Köln die Hand – und Lippstadt und Soest und Remscheid und Stollberg und Senden. Welche Hand kommt mir entgegen? Ich wäre gerne so ein Nordrhein-Westfale wie ich einst ein Niedersachse war …

    Aber man glaubt, die Menschen in Nordrhein-Westfalen wollen sich gar nicht als ein gemeinsames Bundesland fühlen – und das ist schade!

  • Begegnungen mit Beuys – Teil 1

    Begegnungen mit Beuys – Teil 1

    Wir haben das Beuys-Jahr: 2021 wäre der Ausnahmekünstler mit dem Hut 100 Jahre alt geworden. Und zwar am 12. Mai. Das ist jetzt schon ein bisschen vorbei – aber das Jahr ist ja noch nicht ganz zu Ende. Ich hatte gar nicht vor, mich mit Beuys gedanklich auseinanderzusetzen, aber es gab in diesem Jahr ein paar Begegnungen mit Beuys, die mich darüber nachdenken ließen, was seine Art für uns bedeuten könnte.

    Als Kind, das im südlichsten Zipfel Niedersachsens aufwuchs (also eigentlich fast schon an der Stadtgrenze zu Kassel), war ich schon früh (und seit dem regelmäßig) Besucher der ⏩ documenta. Diese ist ja nur alle fünf Jahre und da fällt es schwer, sie zu verpassen. Die „d7“ 1982 war meine Premiere: Das war die documenta, auf der Joseph Beuys seine 7000 Eichen (inkl. Basaltstein) aufstellen wollte.

    Fotos aus der Beuys-Ausstellung im Düsseldorfer K20 im Jahr 2021.

    Zugegebner Weise hatte ich mit 14 noch keinen Zugang zu (moderner) Kunst. Es war viel los in der Provinz und das an sich war schon spannend. An richtig viel kann ich mich nicht erinnern, aber daran, dass ich mit Joseph Beuys einen Kaffee trinken war. Und das kam so: Ich war auf einer Radtour mit der Jugendgruppe aus Großvaters Kirchengemeinde unterwegs und Beuys war in Kassel um den mit rosa Farbe übergossenen Haufen Basaltsteine zu begutachten. Scheinbar gab es viele Leute, die ein ähnliches Kunstverständnis wie ich damals hatten und fanden die Aktion blöd. Beuys guckte seine Steine an und wir guckten Beuys an. Er trank dabei Kaffee aus einem Plastikbecher, den er zerdrückte und wegwarf (das machte man in den 1980er Jahren noch). Mein Großvater sagte: „Heb den auf, da war der Künstler dran: Das ist jetzt Kunst!“ – Wir lachten, ich ließ den Becher liegen, der mir heute vielleicht ein Häuschen bezahlt hätte. Da der Kaffee wohl nicht so lecker war, machte Joseph Beuys einen großzügigen Kreis mit seinem Arm und sagte: „Kommt, wir gehen alle in der Café da drüben und trinken erstmal Kaffee!“ Mein Großvater war sich ganz sicher, dass wir von dieser Armbewegung mit eingeschlossenen waren und so gingen wir mit uns ließen uns vom Künstler einen Kaffee bezahlen. Zugegeben: Ein richtiges Kaffeetrinken mit Künstler stellt man sich anders vor, aber letztendlich trank ich einen Kaffee, den Beuys (oder jemand aus seiner Entourage) bezahlt hatte – wobei ich mit 14 Kaffee nicht mal mochte.

    Spuren der Vergangenheit: Es ist schon interessant, was man 14-jährig auf einer documenta so fotografiert. Wir stehen vermutlich auf den Basaltsteinen, aber sind scheinbar nicht auf die Idee gekommen, die Steine selber zu fotografieren. Daneben die Eintrittskarte zur d7.

    Im selben Jahr brachte der Mann mit Hut eine Platte heraus ⏩ („Sonne statt Reagen„), die fälschlicher Weise unter „Neue Deutsche Welle“ einsortiert wurde. Ich kaufte sie trotzdem brav als Maxi-Single – wir waren jung, friedensbewegt und gegen Atomkraft. Passte alles. Außerdem wusste man wieder nicht, ob der Künstler das alles so richtig ernst meinte und das gefiel mir. Insgesamt gefielen mir diese Provokationen und die Neudefinition des Kunstbegriffs – auch, wenn ich vermutlich nicht alles richtig verstanden habe. Moderne Kunst hatte was von Rock’n’Roll: Die ältere Generation fand keinen Zugang und alles war nur Müll und Schmiererei. Das fand ich gut – bei Elvis war das genauso.

    In einem gut ordneten Haushalt geht nichts verloren: Diese Schallplatte befindet sich in meiner Vinyl-Sammlung im Keller.

    In Berlin (während meines Studiums) in den 1990er Jahren war Beuys irgendwie nicht so präsent: Die Nationalgalerie zeigte Anselm Kiefer, in einem abrissreichen Mauerhaus trug eine Frau schreiend Gedichte für ihre Gebärmutter vor, während in SO36 irgendwie Aktionskünstler Wassermelonen penetrierten. Beuys verschwand aus meiner Wahrnehmungshorizont. Das war nicht weiter schlimm und hätte meinetwegen auch so bleiben können.

    Mit dem Umzug nach Düsseldorf änderte sich ein bisschen: Am Niederrhein und besonders in Düsseldorf ist Beuys noch anders präsent: Man hat ja auch nicht so viel anderes. Hier gab es die Kunstakademie, an der Beuys erst gelehrt hatte und dann nicht mehr, das ⏩ Ofenrohr an der Fassade des Kunsthalle am Grabbeplatz in der Altstadt und in ⏩ Schloss Moyland wurde mit den Beständen der ehemaligen Privatsammlung der Brüder van der Grinten ein Forschungszentrum errichtet. Wer noch mehr sehen will, dem hat das Tourismus-Büro Düsseldorf die Click-Bait-Tour ⏩ „10 Beuys-Orte in und um Düsseldorf, die man kennen muss“ zusammengestellt.

    Meine kleine Serie neuerlicher Begegnungen mit Beuys setzt kurz vor dessen 100. Geburtstag ein. Ich betreue die Social Media Kanäle des Bau- und Liegenschaftsbetriebs Nordrhein-Westfalens. Weil wir für viele Nutzerinnen und Nutzer nicht immer gleich die erste Wahl und Anlaufadresse sind, suche ich Anküpfungspunkte zu Themen die „trenden“ könnten. Ich dachte mir: „Wir haben doch bestimmt irgendetwas in unserem Grundstücks- und Gebäudeportfolio, was mit Beuys zu tun hat.“ – Hat der BLB NRW auch: Zum Beispiel das Gebäude der Kunstakademie in Düsseldorf als öffentliche Hochschule.

    Dann stieß ich bei Online-Recherchen auf eine der 7000 Eichen aus Kassel – die einzige, die ihren Weg in den damaligen Wohnwort des Künstlers geschafft hat. Nicht nur das: ⏩ Beuys hat den Basaltstein selber mitgebracht und war bei der Pflanzung am 23. November 1983 anwesend. Baum und Stein waren gedacht als Geschenk zum 50. Geburtstag des damaligen Wirtschaftsministers Reimut Jochimsen vom Vorstandsvorsitzenden der WestLB, Friedel Neuber.

    Bei der Idee, war die Eiche Beiwerk zum Basaltstein – jetzt wirkt es umgekehrt. Im Hintergrund: Die Staatskanzlei an der Rheinuferpromenade.

    Hier schon mal ein kleiner Spoiler: Die kleine Rasenfläche am Rande des Horion-Platzes an der Haroldstraße 4 ist im städtischen Eigentum, aber es liegt direkt vor dem Gebäude des Wirtschaftsministeriums, was wiederum zum Portfolio des BLB NRW gehört – sagen wir mal so: Das Kunstwerk steht vor einem der Gebäude, die wir verwalten.

    An 09. Mai 2021 machte ich mittags bei herrlichsten Sonnenschein auf dem Weg zu Baum und Stein. Als erstes begegnet ich dort einem Obdachlosen, der an den Baum gelehnt schlief (was die Perspektivenwahl beim Fotografieren etwas einschränkte). Dann traf ich noch zwei Personen, die ebenfalls zum Bildermachen vor Ort waren und weil ich die selbe Motivation vermutete habe ich sie angesprochen.

    Einer von ihnen von war Tomasz Piwarski, bildender Künstler und Meisterschüler der Düsseldorfer Kunstakademie. Er hat gemeinsam mit Jenny Trautwein Sprößlinge der 7000 Beuys Eichen aus deren Früchten gezogen, für die die beiden nun im Jubiläumsjahr als „Beuys Babys“ Paten für erneute Auspflanzung suchen. Auf der ⏩ Projekt-Website schreiben die beiden dazu: „Wir haben die Eichensamen der „Beuys Eichen“ 2020 liebevoll gesammelt, in unsere Obhut genommen und auf unserem Düsseldorfer Stadtbalkon in selbstgenähten „Häusern“ gehegt und gepflegt. Sie wachsen gemeinsam auf, sind Geschwister und tragen die Vision der „7000 Eichen“ von Joseph Beuys in sich und in die Welt. Wir wollen die Eichen virtuell in einer Foto Galerie wieder vereinen und dadurch eine Gemeinschaft der Baumpaten erschaffen. Wir freuen uns auf Ihre Mitgestaltung.“

    Am 05. Juni 2021 wurden die „Beuys-Babys“ in der Galerie „D-Mitte“ in der Ausstellung „Eichenaura Teil 1“ vorgestellt.

    Ich fand die Idee direkt super sympathisch. Tomasz erzählte mir dabei auch von seiner persönlichen Begegnung mit Joseph Beuys. Er habe an die Düsseldorfer Kunstakademie gewollt, war aber unsicher mit welchen Arbeiten er sich dort bewerben sollte. Er hat es irgendwie geschafft, zum Künstler, der nach seiner Entlassung durch Minister Rau nicht mehr an der Akademie lehren, aber nach arbeitsrechtlichen Prozessen in seinem Atelier „Raum 3“ als Geschäftsstelle der „Free International University“ (FIU) weitermachen durfte, vorzudringen, der daraufhin die Mappe kritisch durchging. Piwarski hat sich an die Tipps und Ratschläge gehalten, hat in der Nacht durchgearbeitet und wurde mit der Mappe, die er am nächsten Tag abgab, angenommen.

    Eine deutlich andere Begegnung als eine unbeabsichtigte Kaffee-Runde in Kassel.

    Von weiteren Begegungen mit Beuys in 2021 erzähle ich im zweiten Teil.

  • #Zukunftscheck: Prognosen aus „Die Datenfresser“

    #Zukunftscheck: Prognosen aus „Die Datenfresser“

    Wir alle lieben es, wenn Menschen einen Blick in die Zukunft werfen. Und noch spannender wird es, wenn wir die Gelegenheit haben, diesen Prognosen zu überprüfen. Erinnert ihr euch noch an den 21. Oktober 2015? Das ist der Tag in der Zukunft, an dem Marty McFly im zweiten Teil von „Zurück in die Zukunft“ reist, um seinen Sohn zu helfen. Als der Film 1989 in die Kinos kam, lag diese Zukunft 25 Jahre vor uns – inzwischen liegt sie mehr als fünf Jahre hinter uns. Auch die düstere Zukunft des ersten „Blade Runner“-Films, dessen Handlung am 20. November 2019 beginnt, blieb uns in dieser Form erspart. Die Ereignisse der Matrix-Trilogie ereilen uns erst in über 170 Jahren und wann die „Tribute von Panem“ spielen, scheint irgendwie nicht ganz klar zu sein.

    Aber es muss ja nicht immer das ganz große Kino sein und nicht immer direkt ganze Jahrhunderte zwischen dem Erstellen der Prognose und dem prognostizierten Zeitraum liegen. In dem Sachbuch ⏩ „Die Datenfresser“ von Constanze Kurz und Frank Rieger aus dem Jahr 2011 sind es gerade mal zehn Jahre – und den Beginn der kleinen Geschichte aus der Zukunft habe ich auch prompt verpasst. Sie beschreiben ab Seite 206 „Wohin die Reise geht: Drei Tage im Jahre 2021“ – beginnend am 21. April 2021.

    Es geht gar nicht darum, sich lustig zu machen – ganz im Gegenteil: Es ist ausgesprochen mutig sich mit einer Prognose zitierbar zu machen – vor allem, wenn eine Überprüfung zu Lebzeiten noch sehr wahrscheinlich ist. Zehn Jahre sind kein wirklich langer Zeitraum für einen Blick in die Zukunft. Daher denke ich, sind die Vorstellungen der beiden Autoren in Bezug auf ihr Kerngebiet rund um Datenflüsse und Datenhaltung vermutlich recht treffend: Nachrichten sind personalisiert nach dem Klickverhalten, die Schlafqualität wird überwacht, flächendeckende Gesichtserkennung an allen öffentlichen Orten. Krankenkassen nutzen Fitnessdaten für die Festlegung ihrer Tarife. Grenzkontrollen erfolgen anhand biometrischer Daten. Da sind wir schon oder kurz davor – das passt also.

    Die Rahmenbedingungen sind nicht so – aber ein interessantes Alternativ-Szenario: Auf Grund von Mineralöl-Mangel ist Autofahren für die meisten Menschen in unserem verunmöglicht. Es gibt eine extrem hohe Innenstadt-Maut und ansonsten fährt elektrisch, wer sich das leisten kann. Die meisten Menschen benutzen öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad. Fahrräder sind bei Öko-Extremisten besonders beliebten, ganz besonders die alten Modelle ohne digitale Registriernummer.

    Kleinteile werden mit Flugrobotern zugestellt. Der Trend geht zu langlebigen Produkten, weil die Öl- und Metallreserven des Planeten zu knapp für schnelllebige Produktzyklen ist. Inhabergeführte Cafés gibt es nicht mehr und Island ist das letzte freie Land der Welt. An manchen Stellen ist diese Zukunft gar nicht so schlecht.

  • Lebensphasen: Zwischen Expansion und Kompression

    Lebensphasen: Zwischen Expansion und Kompression

    Alltagspsychologie kann schnell zum dünnen Eis werden: Wer versucht, ein paar Gedanken in diesem Feld zu ordnen, muss aufpassen, dass er nicht durchbricht und in den Untiefen der „Küchenpsychologie“ versinkt. Daher sind die nachfolgenden Überlegungen, nur eine erste Skizze, deren Strichstärke erst durch weitere Überprüfungen, Identifikation von Indikatoren oder Studien dick genug werden könnte, um irgendwann ein Bild zu formen.

    Lebensphasen-Modelle gibt es einige. Günter Karner hat verschiedenen Ansätze nach steigender Anzahl von Lebensphasen von zwei bis zehn aufgelistet. Den meisten dürfte – so auch Georg Rudinger in der „Bonner Enzyklopädie der Globalität“ – eine chronologische, nicht umkehrbare Abfolge zugrunde liegen: „Die Abfolge dieser Schritte soll unumkehrbar sein, was bedeutet, dass keine Stufe übersprungen werden kann. Jede frühere Stufe stellt die Voraussetzung für die nachfolgende dar und soll an ein bestimmtes Lebensalter gebunden sein.“ Häufig gehen diese sequentiellen Abschnitte mit einer Krise und deren Bewältigung einher – so wie im achtphasigen „Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung“ nach Erik H. Erikson: „Jede der acht Stufen stellt eine Krise dar, mit der das Individuum sich aktiv auseinandersetzt. Die Stufenfolge ist für Erikson unumkehrbar. […] Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen, und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. […] Für die Entwicklung ist es notwendig, dass [der Konflikt] auf einer bestimmten Stufe ausreichend bearbeitet wird, damit man die nächste Stufe erfolgreich bewältigen kann.“

    Neben der zeitlichen Abfolge gehen die meisten Modelle auch von einem bogenförmigen Verlauf von Wachstum und Regression (häufig mit der „midlife crisis“ als Wendepunkte in der Mitte) aus, weil „es überall im Lebendigen einen Aufstieg, eine Blüte und einen Abstieg gibt“. (vgl. Karner) In den meisten Modellen sind Expansion und Kompression bereits angelegt – häufig aber auf den Gesamtverlauf des Zyklus bezogen und / oder an konkrete einzelne Phasen geknüpft. Wichtig bei den Betrachtungen erscheint auch, die Entwicklung der Lebensphasen nicht nur an das einzelne Individuum, sondern an den sozialen Kontext zu koppeln, denn es handelt sich um kein Programm, das automatisch – unabhängig von Zeit und Raum – in der isolierten Einzelperson abläuft: „Im Gegenteil, jeder muss mit sich selbst und den anderen seinen eigenen Lebensstil ‚aushandeln‘, den eigenen Lebensplan definieren und ständig neu verändern, ebenso auch das Bild von der eigenen Person flexibel weiterentwickeln.“ ( Hurrelmann, 2003, S. 117)

    Ein paar Grundgedanken scheinen zentral:

    • – zeitliche Abfolge von Phasen
    • – Wachstums- und Regressionsdynamiken
    • – Wendepunkte beim Phasenwechsel
    • – Abhängigkeit des ‚Programmablaufs‘ von äußeren Faktoren

    Mir schwebt eine reduzierte Perspektive auf Lebensphasen vor, die zunächst nur auf die Ausrichtung und Wirkweise ihrer Energie achtet: Sind sie auf Wachstum und Ausdehnung – also Expansion – oder auf Verdichtung und Fokussierung – also Kompression – ausgerichtet?

    Diese Dualität ist verlockend: Schnell mag man ähnliche, antagonistische Modi assoziieren wie „extrovertiert vs. introvertiert“, „anschaffen vs. verschenken“ oder „quantitativ vs. qualitativ“. Aber es wäre zu einfach, die unterschiedlichen Wirkrichtung der Energie auf diese Paare zu reduzieren – auch wenn sicher einige der damit verbundenen Aspekte auch bei „Expansion vs. Kompression“ anteilig eine Rolle spielen mögen. Wichtig ist: Es geht nicht um einen bewertenden Qualitätsunterschied der beiden Phasen-Modi. Sie bilden keine Gegenpole, die mit einem Plus und einem Minus versehen werden könnten. Beide Phasen haben ihre Vor- und ihre Nachteile – weder ist die eine positiv noch die andere negativ.

    Ganz im Gegenteil: Beide Phasen können als energetisch sehr positiv und wertvoll empfunden werden. Geht es einmal – in der Expansion – darum, seinen Radius zu erweitern und über sich hinauszuwachsen, die Welt zu entdecken und zu erobern, Schätze zu finden und sie zu sammeln, so geht es auf der anderen Seite – in der Phase der Kompression – um Vertiefung, Verfestigung und Fixierung.

    Natürlich spielen auch bei diesem Ansatz externe Impulse, die zumeist mit dem Lebensalter korreliert sind, eine Rolle: der Eintritt in die Schule, der Beginn des Arbeitslebens, die Phasen der Partnerschnaften sowie der Wechsel in die Rente. Ein beispielhafter Verlauf könnte wie folgt aussehen:

    Beispielhafter Verlauf von Phasen der Expansion und Kompression über den Lebensverlauf

    Mit den ersten Loslösungsversuchen von der Mutter entdeckt das Kind seine ersten Handlungsspielräume, mit der Schule folgt ein Regelsystem, das anfänglich eher verinnerlicht wird, aber mit der Pubertät auch zum Gegenentwurf im Rahmen der Individuation dienen kann. Ausbildung und Studium bedeuten für viele einen temporären Rückzug aus der äußeren Welt, aber mit dem Berufseinstieg und wachsenden Einkommen, dehnt sich der Aktivitätsradius schnell wieder dynamisch aus: Das Leben gewinnt an Fahrt, es wird gereist, geliebt, geheiratet, Familien gegründet. Viele werden durch Trennung und Scheidung schlagartig und radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn man sich wieder aufrappelt, möchte man der Welt zeigen, dass man noch da, aber häufig folgt nach diesem kurzen Selbstbeweis eine Phase der Reflexion und Fokussierung. Mit dem Eintritt ins Rentenalter entdecken viele Menschen noch mal neue Möglichkeiten, bevor die Kraft altersbedingt nachlässt und die Welt um einen herum immer kleiner wird.

    In soweit ähneln sich viele Modelle tatsächlich. Aber wenn man Expansion und Kompression als intrinsisch motivierte Modi sieht, können die Phasen der Ausdehnung und der Fokussierung unabhängig von personenbezogenen Merkmalen (wie beispielsweise das Alter) und sozialen oder externen Impulsen (wie beispielsweise Schule und Scheidung) eintreten. Man kann sich damit von holzschnitzartigen Programmabläufen von Lebensphasen verabschieden. Es spielt für diese Betrachtung auch keine Rolle, auf welcher Stufe sich die Person befindet und ob es überhaupt definierten Stufen und eine festgelegte Abfolge gibt. Es geht nur darum wahrzunehmen, ob Menschen sich gerade eher in einer Phase des Wachstum und der Ausdehnung (Expansion) oder Vertiefung und Verinnerlichung (Kompression) befinden – diese verlaufen nicht immer gleich und selten parallel. Aber diese Unterscheidung der jeweiligen Blickrichtungen – nach außen oder nach innen – kann helfen zu erkennen, wo andere Menschen gerade stehen oder ihre vielleicht temporär diametral unterschiedliche Entwicklungsdynamik aufdecken.

    Die Lebensphasen zweier Menschen können sich temporär diametral zwischen Expansion und Kompression gegenüberstehen.

    Diese Perspektive kann helfen, negative Paardynamiken (ein Partner geht in den Ruhestand, während der andere einen weiteren Karriereschritt macht) oder auch Familienkonstellation (rebellierende Teenager vs. harmoniebedürftiger Eltern) zu verstehen. Die unterschiedlichen Orientierung zwischen Wachstum und Verdichtung erklären auch unterschiedliche Bedürfnisse von Personen in diesen Phasen. Es kann hilfreich sein, diese aufzudecken, zu diskutieren und untereinander auszuhandeln. Nicht die Unterschiede per se machen uns das Leben schwer, sondern diese nicht zu erkennen, um mit ihnen umgehen zu können.

    Mit dem Lebensphasen-Modi der Expansion und Kompression liegt ein pragmatischer Ansatz vor, der Zugang zur Bewertung von dynamischen Spannungen liefern kann, ohne komplexe Ableitung- und Herleitungsmodelle bemühen zu müssen. Eine Art „Lackmus“-Test, der schon mal eine Menge an Antworten liefern kann, ohne eine komplette Analyse fahren zu müssen.

  • Moralisch korrekt und außerhalb des Gesetzes

    Moralisch korrekt und außerhalb des Gesetzes

    Ich lese wieder sehr viel in letzter Zeit – vieles ist unterhaltsam, anderes sehr lehrreich, aber so richtig beeindruckt hat mich ein Buch schon länger nicht mehr, so dass ich hätte darüber schreiben wollen. Aber diese Geschichte zeigte Wirkung: Es ist das von seiner Tochter aufgezeichnete Leben eines Mannes, der stets seinem moralischen Kompass folgte und damit dem Großteil seines Lebens in der Illegalität verbrachte. Es geht um „Adolfo Kaminsky – Ein Fälscherleben“.

    Wie ich auf das Buch kam – weiß ich gar nicht mehr. Jedenfalls war ich neugierig und habe es mir (wie so viele Dinge) gebraucht bestellt – wobei das Porto dabei ja in der Regel der teuerste Bestandteil ist. Vermutlich interessierte mich ein außergewöhnliche Leben, das meistens unter außergewöhnlichen Rahmenbedingungen entsteht. Der Mitte der 1920er Jahre in Buenos Aires geborene Kaminsky stammt aus einer russisch-jüdischer Familie, die 1910 nach Frankreich auswanderte, aber 1917 nach Argentinien weiterzog. 1932 gingen sie nach Frankreich zurück in ein Europa, das schon bald von Nazi-Deutschland verheerend verwüstet werden sollte.

    Mit der Eroberung Frankreichs beginnen auch dort die Juden-Verfolgungen und -Deportationen. In diese dunkele Zeit fällt auch die für mich eindringlichste Szene der Lebenserzählung: In der Lagerhaft in Drancy wird seine Familie vor die Wahl gestellt, Adolfos Schulfreundin Dora in den Tod zu folgen. Ihre Mutter war bereits tot, ihr Vater starb in der gemeinsamen Haft und Adolfos Familie hatte Dora zugesichert, sie wie ihr eigenes Kind anzunehmen und betreuen: „Aber leider zählte diese Adoption nur für uns. Kaum angekommen, wurde sie ins untere Stockwerk zu denen gesteckt, die abtransportiert werden konnten. Mein Vater tat alles, um sie als seine Tochter anerkennen zu lassen, er erreichte sogar eine Unterredung mit dem Lagerführer Alois Brunner. […] Bei seiner Antwort gab mein Vater auf: ‚Wenn Sie sich nicht von ihr trennen können, wie Sie sagen, kann ich der ganzen Familie einen Platz im nächsten Zug verschaffen.’“ (S. 51) Dora wird ein paar Tage später in ein Todeslager deportiert. „Als sie an der Reihe war konnten wir nichts tun, und die Zeit hat das ungeheure Schuldgefühl nicht auslöschen können, das mich bis heute quält.“ (ebd.)

    Am Ende des Buches ist nicht ganz klar, wie vielen Tausenden Menschen Kaminsky mit seinen gefälschten Papieren das Leben gerettet hat – aber dies scheint nicht den als solchen empfundenen Verrat an seiner Schulfreundin aufzuwiegen. Die Perversität, mit der diese Entscheidung erzwungen wurde, verursacht schon beim Lesen Schmerzen. Manch Entscheidung mag uns schwierig entscheiden, aber alles tritt dahinter zurück, jemanden opfern zu müssen, um sich und dem Rest der Familie das Überleben zu sichern.

    Kaminskys Familie wird nicht direkt deportiert, weil sie argentinische Dokumente haben. Der Wendepunkt ist deutlich. Der neugierige Junge ohne richtige Ausbildung geht in den Untergrund und wird einer der größten Fälscher der Neuzeit: Erst in der Resistance (die keine geschlossene Widerstandsbewegung war, sondern ein zerstückelter Haufen vieler Organisationen mit vielen Abkürzungen, die sich oft überhaupt nicht einig waren), dann für die Einwanderung heimatloser Juden nach Palästina und alle Zeit für die Unabhängigkeitskämpfer in Algerien. Dazwischen immer wieder für unterdrückte Gruppen, die staatlichen Repressalien in Europa oder dem Rest der Welt ausgesetzt waren.

    Meistens hat er unentgeltlich gearbeitet und von keinem der Netzwerke vereinnahmt werden zu können und erpressbar zu sein. Sein offizielles Leben als Fotograf, Ehemann und Vater kam dabei zu kurz. Adolfo Kaminsky muss geradezu zwanghaft helfen. Er glaubte stets moralisch das Richtige zu tun und stand dennoch immer außerhalb des Gesetzes. Ein Buch das bedrückt, aber auch irgendwie Hoffnung macht.

  • Pseudo-Transparenz polarisiert

    Pseudo-Transparenz polarisiert

    Ich frage mich schon seit längerem, was aus dem Internet und insbesondere Social Media geworden ist. Dünnhäutige „Allerwelts“-Expert:innen keifen sich aufgepeitscht an, jede:r stellt alles in Frage und zeigt mit dem Finger auf die anderen, die die Dummen sind. Etliche empfinden die Medien als ‚gleichgeschaltet‘ und es wird nach ‚alternativen Medien‘ Ausschau gehalten. Was ist hier passiert? Früher sind wir doch auch nicht alle direkt aneinander geraten, wenn außergewöhnliche Ereignisse unsere kleine, alltägliche Lebenswelt erschüttert haben.

    „Der Postillion“ bringt es mit seinen satirischen Beitrag über ⏩ „Tschernobyl-Leugner“ auf den Punkt:

    Was wusste man damals? Nur, das was über die Medien, die Regierung und die Verwaltung mitgeteilt wurde. Man guckte maximal, ob Regenwolken aus dem Osten kamen und verzichtete auf das Pilzesammeln im Wald. Was konnte man selber recherchieren? Was konnte man machen? Was konnte man zur öffentlichen Diskussion beitragen? Nichts.

    War das gut? Nicht unbedingt. Hat es uns geschadet? Nicht unbedingt.

    25 Jahre später hatten wir die nächste Nuklear-Katastrophe – diesmal in Japan, diesmal mit dem Internet. Diesmal lassen wir uns nichts mehr vormachen – besonders in Deutschland nicht. Fukushima ist zu Fuß von Deutschland etwas über 12.000 km entfernt, nach Tschernobyl sind es keine 1.500 km. Aber diesmal konnten wir was tun: Wir hatten ja nun das Internet und auf einmal ist Japan näher als die Ukraine. Social Media brummt, ⏩ Geigerzähler sind deutschlandweit ausverkauft und japanische Produkte bleiben in Supermärkten liegen. Behauptungen lösten Beweise ab, Mutmaßungen und Meinungen machten die Runde.

    Für mich war es ein Stück weit der Punkt, an dem die sozialen Medien ihre Unschuld verloren haben: Hass, Häme und Halbwissen wurden nun Alltag. Schließlich kann sich jeder seine eigene Meinung bilden und es gab keinen Berg mehr, hinter dem man diese halten müsste. Jeder sucht und findet im Netz die Zahlen, Aussagen und Zitate, die zu seiner jeweiligen Weltsicht passen. Wer das nicht so sieht, der will es nicht sehen. Alles ist für die Kritik offen, denn Lösungen muss ich nicht präsentieren.

    Es ist inzwischen nur noch ein Glaubenskrieg: Entweder man glaubt etwas oder nicht und dann kämpft man dafür oder dagegen – mit allen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen. Wer nicht ‚mitglaubt‘, ist ein Verräter, muss niedergeschriehen und als Idiot abgestempelt werden. Denn die Wahrheit ist doch so klar und offensichtlich und doch nur einen Mausklick entfernt. Wir schauen alle durch trübes Milchglas auf die Welt und glauben doch, den einzig richtigen Weg sehen zu können.

  • Wanderungen zu Wüstungen

    Wanderungen zu Wüstungen

    Auch im zweiten Corona-Frühjahr 2021 kann man in seiner Freizeit nicht viel mehr machen, als durch die Gegend zu latschen. Den Nachwuchs (mit 10 und 13) dafür zu begeistern, fällt nicht immer leicht. Für die erste Woche der Osterferien habe ich also angekündigt, dass wir zu „verlassenen Dörfern“ wandern werden – das klang geheimnisvoll und ein bisschen nach Abenteuer. Die Verpackung ist eben immer so wertvoll wie das Geschenk.

    Die erste Tour führte uns zur Wüstung Kahlenberg im Bergischen Land. Ich wusste von Vorrecherchen aus dem Internet, dass es dort nicht viel zu sehen geben würde, aber man muss ja nicht alles im Vorfeld teilen und kann so für eine Überraschung sorgen. Der Weiler bestand nur aus drei Wohnhäusern mit angeschlossenen Wirtschaftsgebäuden und wurde vor fast 100 Jahren (1928) aufgegeben. Die Häuser zerfielen und wurden in den 1950er Jahren geschliffen. Wo früher die Siedlung war steht heute nur noch ein Kreuz (1995 zum Andenken errichtet), vor dem die Schwelle eines der Wohnhäuser gesetzt wurde. Die Linde hinter dem Kreuz ist ein Naturdenkmal, davor steht noch eine kleine Info-Tafel. Das war’s mit der Wüstung.

    Viel geblieben ist nicht von Kahlenberg – eher nur Erinnerungen

    Unter dem Rasen liegen noch Fundamente und Grundmauern. Dort buddeln sollte man aber nicht, denn die Wüstung Kahlenberg liegt in mitten eines Golfplatzes. Was für eine „Wanderung“, die mit knapp über 3 km viel mehr ein Rundweg über das ‚Green‘ ist, schon etwas ungewöhnlich ist – dafür ist das Gelände aber tipptopp in Schuss und landschaftsgärtnerisch sehr schön gestaltet. Im Gegenzug darf man den Weg nicht verlassen und soll sich vor querfliegenden Golfbällen in Acht nehmen.

    Ohnehin war es für mich die größte Herausforderung, den Startpunkt zu finden, der keine Adresse hat, was Navigationsgeräte in der Regel nicht so lieben. Dreimal standen wir auf einem Parkplatz, auf dem ich verkündete, dass es dort losginge – ging es aber nicht. Letztendlich muss man einen kleinen Parkplatz in „Sürth“ hinter der Bushaltestelle auf der Landstraße finden. Von da an geht es erst bergauf, aber nach der Wüstung am Wendepunkt wieder sanft geschwungen durch ein Bachtal nach unten.

    Spaziergang über den Golfplatz

    Die zweite Tour mit knapp 13 km Länge war dagegen schone richtige Wanderung und erforderte den Kids gegenüber mehr Moderation und Motivation: Im ⏩ Nationalpark-Eifel ging es zur Wüstung Wollseifen. Die hat eine ganz andere Geschichte als das eher traurige Kahlenberg und es gibt noch mehr zu sehen. Auch der Weg ist recht reizvoll. Das erste Highlight, bereits wenige Meter hinter dem Parkplatz am Dorfrand von Dreiborn, ist die ⏩ Rothirsch-Aussichtsempore: eine Art überdachtes Freilichtkino zur Beobachtung der Brunft und Besteigung.

    Gleich am Startpunkt befindet sich die Rothirsch-Beobachtungsempore

    Eine flache Hochebene war nicht das Erste, was mir bei Eifel in den Sinn gekommen wäre. Aber das Laufen auf dem federnden Boden eines ehemaligen Hochmoores ist sehr angenehm. Gleichzeitig reicht einem die Flora gefühlt nur bis zum Knie – das heißt: Es gibt keine Bewaldung und keinen Schatten. Früh morgens ist das beim Laufen angenehm, aber bereits vormittags brennt einem bei schönen Wetter die Sonne Löcher in den Pelz und grillt das Großhirn. Besonders bei sommerlichen Wetter empfiehlt es sich – besonders, wenn man mit Kindern unterwegs ist – ausreichend Flüssigkeit, Mützen und gegebenenfalls einen Sonnenschirm mitzunehmen.

    Die erste gerade Strecke über das Hochmoor kann auch sehr morastig werden. Besonders wenn es ein paar Tage zuvor geregnet hatte. Der Weg ist eben und macht auf Grund des urigen Bewuchses am Rande richtig Spaß: „O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn …“ – das wusste schon Annette.

    Hat was von Abenteuer-Tour durch den Dschungel: Der Weg übers Hochmoor

    Nach dem Hochmoor-Pfad kommt nach einer S-Kurve im wahrsten Sinne des Wortes eine Durststrecke: Ohne einen einzigen Baum geht es zwischen Felder und Wiesen einen endlos wirkenden Weg lang. Wenn man ein gutes Auge hat, kann man aber schon in grader Linie vor einem den Kirchturm der Wüstung Wollseifen zwischen den Bäumen am Horizont erkennen. Noch vor dem Überqueren der Bundesstraße findet man die ersten Spuren des ehemaligen Truppenübungsplatzes und ist damit schon in der Geschichte des verlassenen Dorfes angekommen.

    Die fast 1000-jährige Siedlung wurde 1946 vom britischen Militär geräumt und die damals 550 Bewohnerinnen und Bewohner mussten ihr Dorf für einen Truppenübungsplatz aufgeben. Später haben belgische Truppen den Platz übernommen, um im verlassenen Dorf den Häuserkampf zu trainieren. Dafür entstand noch ein Straßenzug mit einfach errichteten Rohbauten entlang der ehemaligen Dorfstraße.

    Schon vor der Bundesstraße finden sich Betonsperren, Erdbunker, Panzerstraßen. Zumindest kann man sich überlegen, was das mal war und wofür es gedient haben mag. Tückisch wird es, wenn man die Bundesstraße überquert und an den Parkplatz zum Rundweg durch die Wüstung kommt. Hier fragen die durchgeschwitzten, verdursteten Großstadtkinder, warum man nicht einfach hätte dort parken können, wie alle anderen, die ins verlassene Dorf wollten. „Weil wir lieber wandern wollten“, kommt dann als Antwort nur eingeschränkt gut an.

    Hinter der Bundesstraße die lange Grade hoch, kommen dann bereits recht schnell die ersten Sehenswürdigkeiten und Neugier besiegt den Frust. Erst ein Schuppen, dann eine Kapelle, später die ehemalige Schule. Alles vom Verein der ehemaligen Bewohnerschaft gesichert und saniert. Am markantesten dürfte die Dorfkirche sein, davor eine Modell, dass die ehemalige Besiedlung zeigt. Entsprechend viele Info-Tafeln erklären alles.

    Die Rohbauten sind aus Sicherheitsgründen im Erdgeschoss zu gemauert. Rein kommt man nirgends. Die Atmosphäre wäre sicherlich noch bizarrer, wenn das Gelände nicht auch unter der Woche stets gut mit Besuchern gefüllt wäre.

    Hinter der Wüstung führt die zweite Hälfte des Rundwanderwegs durch bewaldetes Gebiet, was bei sonnigen Wetter sehr angenehm ist. Dafür geht es steil runter und wieder steil rauf. Hinter der Bundesstraße war im März 2021 die Brücke über den Sauerbach bei Heilstein gesperrt. Konditionstechnisch hätten wir keinen Umweg einbauen können und erwartungsgemäß war nur in einem Brett der Holzbrücke ein Loch, was sie offiziell nicht „verkehrssicher“, aber für Fußgänger völlig ungefährlich begehbar macht. Vom Bachtal aus geht es stetig bergauf zurück auf die Hochebene. Unterwegs haben wir noch wilde Tiere gesehen.

    Wilde Tiere in der Eifel

    Fazit: Tour 1 war ein schöner Spaziergang, wenn man sich mal ein Stündchen in angenehmer Umgebung gehen lassen möchte. Tour 2 eine tolle Tageswanderungen mit abwechselnden Landschaften, spannenden Wegen durchs Hochmoor und einer entsprechenden Attraktion ungefähr auf der Hälfte des Wege.

    Beide Wege waren in meiner Wander-App auf dem Handy entsprechend gut beschrieben und lassen sich vermutlich in allen vergleichbaren Apps finden.

  • Warum es besser ist, dass meine Uhr nicht so schlau ist

    Warum es besser ist, dass meine Uhr nicht so schlau ist

    Ich mag Technik. Ich mag Technik, die funktioniert. Smarte Technologie kann mich begeistern. Es war also recht naheliegend, dass auch irgendwann meine Uhr smart sein würde. Und damit die Uhr auch richtig schlau sein kann, brauchte sie eine eigene SIM Karte – alles andere sind minimalistische Remote-Displays des verbundenen Handys.

    In meinem Fall war es eine Huawei Watch 2, die vor ziemlich genau drei Jahren für 300 Euro an mein Handgelenk kam. Und ich fand’s wirklich praktisch: Das leichte Vibrieren kündigte aktuelle Infos an. So konnte man Kurznachrichten direkt lesen und von E-Mails die Anfänge. Ich hatte meine Einkaufslisten und Notizen am Handgelenk. Social Media war eher sperrig und wenn ein Anruf einging, konnten sich Handy und Uhr nicht immer einigen, wer nun Vorrang hätte. Ich konnte aber so einfacher beim Autofahren telefonieren – das war praktisch, denn ich habe keine Freisprecheinrichtung. Und die Display-Beleuchtung als Taschenlampen-App hat auch manchmal geholfen, wenn im Keller die Falle der Zeitschaltuhr zuschlug. Und das alles ging ohne dass das Handy in der Nähe sein musste. Wir waren ein gutes Team – ich und meine Smartwatch.

    Doch dann kam Corona – und alles wurde anders. Nein, die Uhr hat keinen Virus bekommen, aber passte auf einmal nicht mehr zu den sich verändernden Tagesabläufen und Gewohnheiten. Da ich schon über ein Jahr nicht mehr berufsbedingt Pendeln musste, war der Vorteil beim Autofahren schnell abgehakt und da ich seit März 2020 fast ausschließlich im Homeoffice sitze, wurde mein Auto noch weniger bewegt. Darüber hinaus trage ich meiner Wohnung keine Armbanduhr – vielleicht eine Marotte, aber ich habe in jedem Raum sichtbar irgendwo eine Uhr, da macht das auch keinen Sinn noch eine am Handgelenk zu tragen.

    Da ich nun nicht mehr aus dem Haus ging, blieb auch meine Uhr brav im Körbchen auf dem Schuhschrank bei der Wohnungstür liegen. Wenn ich dann mal losging und nach der Uhr griff, war der Akku leer. Eigentlich immer während des Corona-Jahres. Der eingefleischte Rhythmus, dass Smartphone und Smartwatch nachts regelmäßig geladen werden, wenn der Mensch schläft, damit beide Geräte mit dem Start zur Arbeit für den ganzen Tag einsatzfähig sind, war durchbrochen. Ich bin sogar häufig mit einer energetisch toten Uhr am Handgelenk aus der Wohnung gegangen, denn auch ist eine Marotte, dass ich eine Uhr trage, wenn ich nicht in meiner Wohnung bin.

    Aber es kam noch schlimmer: Wenn die Smartwatch tot war, könnte ich ja auch meine alte Armbanduhr wieder verwenden – immerhin eine Automatik einer eher teuren Uhrenmarke, die sich selber aufzieht, wenn man sie trägt. Die ist natürlich auch leergelaufen, wenn man sie länger nicht benutzt hat. Und die Batterie in der Ersatzuhr vom Uhrenhändler tut es auch nicht mehr.

    Was nützt mir eine Smartwatch, wenn die ganze Intelligenz nicht mal dafür ausreicht, mir die Uhrzeit anzuzeigen, wenn ich sie brauche? Ich wollte nun lieber eine Uhr, die nichts kann außer die Uhrzeit anzuzeigen, bei der man den Batteriewechseln nicht verschlafen kann und die auch wacker weiterläuft, wenn sie ein paar Tage nicht getragen wird. Die Lösung für mich? Eine Solar-Uhr, die – laut Hersteller-Versprechen – nach ausreichender Aufladung auch in völliger Dunkelheit bis zu sechs Monaten (und länger) weiterlaufen soll. Wie doch ein Pandemie-Jahr die Ansprüche an die Gadgets völlig verändern kann.

  • Learnings from Kickstarter

    Learnings from Kickstarter

    7 Dinge, die ich bei meiner Kickstarter-Kampagne gelernt habe:

    „Geh zu ⏩ Kickstarter!“ haben sie gesagt. „Da werden Spiele erfolgreich finanziert!“ haben sie gesagt. Man kann dort aber auch schön scheitern – das haben sie nicht gesagt.

    Dass Ideen nicht immer erfolgreich sind, weiß man. Dass Ideen nicht deswegen erfolgreicher sind, weil man sie mag und persönlich sehr an ihnen hängt, weiß man eigentlich auch. Ein bisschen traurig ist man aber trotzdem, wenn es nicht klappt.

    Ich habe Anfang 2020 eine Spiele-Idee für ein schnelles, einfaches Familien-Brettspiel entwickelt, getestet und zu einem gewissen Reifegrad geführt. Über die Idee und Entwicklungsgeschichte habe ich regelmäßig berichtet, so dass eigentlich ziemlich klar war, worum es ging und woran ich arbeitete. Ich habe gesägt, geschliffen und lackiert und konnte so am Ende interessierten Personen eine ausgereifte Prototyp-Variante zum Kauf anbieten, die ich hätte in meinem Hobbykeller als Kleinauflage umsetzen können. Das Interesse hielt sich aber innerhalb der Reichweite, die ich mit meinen Möglichkeiten erzeugen konnte, in Grenzen – diese Grenze war die Nulllinie.

    Es stimmt schon, dass man mit Kickstarter eine gewisse Aufmerksamkeit auch außerhalb der eigenen Filterblase erzeugen kann. Es stimmt auch, dass die Finanzierung von (Brett-) Spielen auf Kickstarter eigentlich sehr gut läuft: In der tagesaktuellen Statistik der Crowdfunding-Plattform lag die Erfolgsquote bei Spielen Mitte November bei 41,5%, was auch zu anderen Erhebungen wie bei statista.de oder im private-equity-forum passt. Soweit die weltweiten Zahlen. Für Spiele-Ideen aus Deutschland (1368, Stand: Mitte November 2020) fällt die Quote mit 38% schon ein bisschen schlechter aus.

    Das erklärt aber noch nicht, warum mein Projekt dort verkackt hat. Deswegen nun zu den Dingen, die ich aus dem Versuch bei Kickstarter gelernt habe. Ein paar Dinge liegen bereits im Produkt, also meiner Spielidee begründet:

    1. Die Freaks gewinnen nie den Pokal.

    Es ist schön, anders zu sein. Man bekommt vielleicht einen gewissen Grad an Beachtung und wenn man Glück hat, sogar noch ein Lob dafür, dass man sich der Konkurrenz gestellt hat, obwohl man so gar nicht den Konventionen entspricht. #DASBAUSPIEL passte so gar nicht in die Reihe der anderen Spiele, die auf Kickstarter vorgestellt werden. Das „Außenseiter – Spitzenreiter“-Motto mag pädagogisch wertvoll sein, führt aber in den seltensten Fällen zu kommerziellen Erfolg. Am Markt funktioniert eben nur das, was die Masse mag.

    2. Zu groß, zu schwer, zu teuer…

    DASBAUSPIEL lässt sich leider nicht wirtschaftlich kalkulieren. Tatsächlich habe ich die meiste Zeit mit Fragen der Bezahlbarkeit verbracht. Das Spiel lebt von den hochwertigen Holzspielsteinen, aber das ist am Ende dann auch wirklich „eine Menge Holz“ – fast zwei Kilo kommen da zusammen. Die Materialien sind teuer in der Beschaffung. Bei einem Endkundenpreis von maximal 20 Euro dürfte der Produktionskostenanteil nicht mehr 20% betragen – also sollte unter vier Euro liegen – raten Spiele-Experten bei der Preiskalkulation. Demnach müsste #DASBAUSPIEL 100 Euro kosten. Das würde vermutlich erst recht niemand für einen Karton voller Bauklötzchen zahlen wollen. Der gewählte Angebotspreis von 33 Euro ist bereits symbolisch und soll verhindern, dass ich als Produzent noch draufzahlen muss – aber trotzdem ein recht stolzer Preis für ein Familienbrettspiel.

    Die Vielzahl und Qualität der Teile lässt kaum Luft für die Preisgestaltung. Letztendlich war es vermutlich eher nur ein Angebot für Menschen, die sich auch einen Handschmeichler für 38 Euro kaufen würden, nur weil dieser sich gut anfassen lässt. Diese Menschen gibt es, aber sie suchen ihre Handschmeichler eher auf Kreativmärkten als auf Kickstarter.

    3. Wenn Du in Rom bist, mache es wie die Römer.

    Überhaupt wurde ich von einigen freundlichen Zeitgenossen darauf hingewiesen, dass Kickstarter nicht die richtige Crowdfunding-Plattform für meine Idee wäre und ich lieber eine andere Crowdfunding-Website hätte wählen sollen. Falls jemand den Link zur „Wertigen-teuren-Holzspielzeuge-Gruppenfinanzierungs-Seite“ hat, dann nehme ich diesen gerne entgegen.

    In gewisser Weise hatte ich gehofft, Kickstarter für meine Interessen benutzen zu können, da ich hoffte, genügend Vorbestellungen zusammenzubekommen, um in der Werkstatt für angepasste Arbeit der Lebensgemeinschaft Wickersdorf eine Erstauflage produzieren lassen zu können. Aber Dinge für etwas gebrauchen zu wollen, für das sie nicht konzipiert sind, geht meistens schief: Natürlich kann man mit einem Porsche einen Pflug ziehen, aber so war das eigentlich nicht gedacht und zielführend ist das sicher auch nicht.

    DASBAUSPIEL fiel auch schon allein deswegen bei Kickstarter aus dem Raster, weil ich eigentlich nur das Spiel in seiner Grundversion anbieten wollte. Ich hatte keine Lust verschiedene „Belohnungen“ für Unterstützer zu kreieren oder zusätzliche Ziele bei Überfinanzierung zu öffnen und habe somit die grundlegenden Mechaniken der Kickstarter Community ignoriert.

    Das ist doof, denn bereits 1998 hat Billy Joel gesungen „But when in rome, do as the romans do“ – wer das ursprünglich gesagt hat, ist aber irgendwie unklar. Es lässt sich wohl eine sinngemäße Passage in einem Brief von Augustinus aus irgendwenn zwischen 387-390 n. Chr. finden – aber Billy Joel erscheint mir passender: „When on kickstart do as the kickstarters do!“

    4. Kickstarter ist eine Community-Plattform – entsprechend wird man zugespamt.

    Mit einem Projekt legt man auch auch Profil auf Kickstarter an. Und da man nicht einfach ein Warenhaus oder eine Kleinanzeigen-Plattform ist, sondern eine Community, erhält man schnell Post von anderen Kreativen und deren Freunden. Die meisten wollen Dich freundlicher Weise gegen ein gewisses Honorar fördern und unterstützen. Dabei achten sie nicht einmal darauf, ob ihr günstigstes Service-Paket sich aus der Finanzierungssumme überhaupt bezahlen ließe. Ich wollte insgesamt 2000 Euro zusammen bekommen – ab 10000 US-Dollar hätte man mich dabei gerne unterstützt.

    Ein „Trick“ ist aber in gewisser Weise recht sympathisch: Wenn Dein Projekt gegen Ende der Frist schon mächtig in den Seilen hängt, kommen Kleinstbeträge von anderen Kreativen zur Unterstützung: Dadurch machen diese auf ihre Projekte aufmerksam und das Risiko, bei den symbolisch unterstützten Ideen zahlen zu müssen ist gering, denn wenn die Finanzierung fehlschlägt, zahlt niemand etwas.

    5. Mehr Kommunikation schafft nicht mehr Aufmerksamkeit.

    Jetzt wird es ein bisschen peinlich für mich, aber manchmal merkt man gar nicht, wie dick das Brett vor dem eigenen Kopf tatsächlich ist. Natürlich habe ich mir für die Laufzeit der Kampagne viele schöne passende Postings für meine Social Media Kanäle überlegt – diese habe ich mit einer gewissen Beharrlichkeit und hohe Dichte ausgespielt. Leider geht der Plan nur bedingt auf: Wenn Deine Beiträge von Deinen Kontakten nicht geteilt werden, schießt Du die selbe Botschaft immer wieder auf die selben Leute. Und wer nach den ersten fünf Posts noch kein Spiel bestellt hat, wird dies nach weiteren fünf auch nicht machen.

    Man braucht also keinen Redaktionsplan, sondern einen Plan wie man neue Zielgruppen gewinnen kann. Ich habe es dann nach ein paar Tagen in Brettspiel-Foren und Gruppen im Internet und Facebook versucht. Dort mag man keine Neulinge, die direkt nach dem Hereinpoltern ihren Marktstand aufklappen wollen. Ich hätte vermutlich schon seit Jahren dort mitdiskutieren müssen, um mit Ideen willkommen zu sein.

    Und sagt mir jetzt nicht, dass ich einfach ein paar Spiele hätte kostenlos an Influencer verteilen sollen – dafür hätte ich erst einmal ein paar Spiele haben müssen.

    6. Was die Leute sagen, hat nichts damit zu tun, was die Leute machen.

    Eigentlich ein Klassiker: Wenn jemand sagt „ich würde es kaufen“ wird daraus kein „ich werde es kaufen“, nur weil das Produkt nun erwerblich ist. Wer etwas „interessant“ findet, gibt dafür noch lange kein Geld aus. Das ist nicht schlimm, man muss sich dessen nur klar sein.

    7. Wenn niemand Deine Idee haben will, dann ist sie nicht gut.

    Klingt vielleicht hart und frustriert – aber man muss sich dieser Wahrheit stellen: Ein deutlicheres Feedback kann man sich nicht abholen, als ein Angebot zu unterbreiten, das niemand annehmen möchte. Das braucht man sich auch nicht schön reden und es einfach noch mal versuchen – so wird das nichts. Das haben wir gesehen.

    So.